Entwicklung bei Plattenlabels für klassische Musik
#1
Die klassische Musik war eine ganze Zeitlang das wichtigste Standbein der Plattenindustrie. Quantitativ machte man große Umsätze, qualitativ betrieb man hohen Aufwand. Der Name "Karajan" mag dafür stehen, wie man mit klassischer Musik marketingtechnisch geschickt Geld verdient hat, auch noch in einer Zeit, in der längst die U-Musik auf dem Vormarsch war.

Künstlerisch schien die Entwicklung in eine Sackgasse zu laufen:

# Große Namen, sowohl bei Labels als auch bei Künstlern, standen in einem großen Wettbewerb zueinander.

# Das Publikum kaufte die großen Namen und wurde entsprechend bedient.

# In der Folge gab es in regelmäßigen Abständen Neuveröffentlichungen der üblichen bekannten Werke mit den jeweils aktuellen Stars.


Soweit ich weiss, ist der Anteil der Klassik im Vergleich zum Rest der Musik erheblich gesunken und hat, bedingt durch den hohen Aufwand für qualitativ einwandfreie Produktionen, seine Wichtigkeit als Renditebringer eingebüsst.

Wie sah die Szene früher aus, wie hat sie sich entwickelt, wie ist die Situation heute. Als positiv bemerke ich, daß es für bestimmte Nischenprodukte engagierte und spezialisierte labels zu geben scheint, deren wirtschaftliche Situation stabil ist. Ich bin aber kein Klassik-Fan und kenne mich nicht en detail aus. Wie ist die Situation?
Michael(F)
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#2
Zitat:Michael Franz postete
Die klassische Musik war eine ganze Zeitlang das wichtigste Standbein der Plattenindustrie.
Bist Du sicher? Das sollte mich jedenfalls sehr wundern.

Gruß,
Markus
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#3
Auch ich würde mich da der kritischen Frage Marcus' engagiert anschließen, denn die Sparte klassischer Musik war immer (!) ein Quersubventionsbereich.

Als ich anfing, sprach man davon, dass der Anteil klassischer Musik am weltweiten Musikausstoß "bei knapp 8 Prozent" läge (ich vermutete dahinter schon damals einen Euphemismus), derzeit dürfte jener Anteil unter 1 Prozent gesunken sein. Angehörige der Deutschen Grammophon berichteteten mir vor drei Jahrzehnten, dass selbst teure Produktionen, deren Absatz nicht sichergestellt sei, zunächst in Kleinstauflagen (also 1000 Stück) -wohlgemerkt weltweit- angeboten würden; nachfertigen könnte man notfalls ja innerhalb weniger Stunden.

Karajan zählt unter die großen Ausnahmen; dieser Mann verstand sich bemerkenswert perfekt auf das Erstellen einer subjektiven, 'anerkannt besonderen' Reputation und der Wege dorthin: "Was K. macht, macht er gründlich", stellte einmal D. Hildebrandt fest, "der ist auch zwei Mal der NSDAP beigetreten: Einmal in Ulm und einmal in Salzburg". Auf derlei Klaviaturen zu spielen, verstand er sich also auch.
Andere hatten da mehr Probleme, auf dem Markt bestehen zu bleiben. Wer spricht heute noch von Walter Lutze oder Arthur Rother, Karajans arrivierten, früheren Konkurrenten in der Berliner Medienszene bis 1945?

Wolf Erichsons TELDEC-Projekt der Gesamtaufnahme der Kantaten Bachs mit Harnoncourt und Leonhardt ab 1970 bedurfte schon Ende 1969 einigen Anschiebens, um die Sache durch das Management zu drücken.

Heute werden nicht unerhebliche Teile des Klassikmarktes von Kleinunternehmern abgedeckt, die halt hoffen, mit ihren schmalen Budgets durchzukommen und vom Finanzamt in Ruhe gelassen zu werden; von dieser Seite gibt es mittlerweile nämlich auch eine signifikante und keineswegs zufällige Verschärfung des Kurses.
Größere Vorhaben werden über Kooperationsverträge mit einer Rundfunkanstalt gefahren, was 'den Freien' auf dem Markt natürlich nicht gefallen kann, weil sie mit den dabei gepflogenen finanziellen Usancen (Produktionsapparat) mitzuhalten außerstande sind, können sie doch keine Gebühren erheben und keine bezahlte Werbung schalten. Großfirmen -so sie denn lokal noch existieren- lassen sich fertige Projekte anbieten und verlegen die dann (gegebenenfalls). Regelrechte, eigene Ideen entwickelnde und durchziehende Produktionsabteilungen, aus denen ja auch der besagte Wolf Erichson hervorging und zu einer zeitweise zentralen Figur in der Entwicklung der Alten-Musik-Szene Deutschlands wurde, werden bei Großfirmen heute nicht mehr unterhalten. Was interessiert den Betriebswirt die Aufnahme eines Musikstückes, das ein Musikologe für angemessen erachtet, in den firmeneigenen Katalog aufgenommen zu werden? Den Betriebswirt interessiert das damit zu erzielende positive Geschäftsergebnis, sonst nichts. Wird ihm das nicht 'halbwegs garantiert', gibt es kein grünes Licht. In den Geschäftsleitungen haben sich die Stimmen der Betriebswirte zum Chor verdichtet, frühere Angehörige des Produktionsstabes findet man in diesen Etagen nicht mehr, was einen nach obigen Feststellungen ja auch nicht verwundern sollte. Firmenlinien sind damit über den Har[t]z.

Das Gewandhausorchester Leipzig hatte -als eines der anerkannt besten Orchester dieser Welt- in der unmittelbaren Vergangenheit eine vier- oder fünfjährige Phase ohne jede Schallplattenaufnahme.... Trotz Masur und MDR am Ort und einem Intendanten dazu, der -mir nur zu wohl bekannt- aus der Tonbranche kommt.

Es sieht also ziemlich schwarz aus, denn die Situation verschärft sich seit rund 20 Jahren sukzessiv. Nachdem die gesamte deutschsprachige Produzenten- und Plattenverlagsszene faktisch dahin ist -Musik und Sprache gestalteten gemeinsam über Jahrhunderte lokale Musiktraditionen- wird es auch mehr als eine Dekade dauern, bis man den Kurs der letzten 20 Jahre mit all seinen Folgen revidiert hat, wenn er denn je revidiert werden wird. Marktdruck gibt es von Seiten der Interessenten ja de facto nicht, es sei denn der zwischen Rieu (dem aktuellen; es gab nämlich schon mal einen anderen, den meine ich aber nicht) und Kennedy, Netrebko und -vorgestern- Mozart-Maischberger.

Gottlob habe ich kein Fernsehgerät.

Hans-Joachim
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