Radiohören im Jahre 2022
#32
sorry, aber was mich an Threads wie diesem wirklich erschreckt, ist, dass a) nur in Feindblidern gedacht wird, und b) die Möglichkeiten der neuen Medienwelt und deren Auswirkungen auf das altmodische Radio scheinbar noch gar nicht angekommen sind.

Früher gab es drei UKW-Ortssender, und noch eine Hand voll hörbarer AM-Sender, und das wars. Ich meine, mich als Kind sogar noch daran erinnern zu können, dass es im Radio Sendeschluss gab. Ende der fünfziger wurde zwar auf Mittelwelle die "Musik bis zum frühen Morgen" eingeführt, es hat aber bis Ende der sechziger Jahre gedauert, bis alle UKW-Sender das Nachtprogramm ausstrahlten.

Dass es den Sendern völlig egal war, was die Zuhörer wollten, das war früher schlimmer als heute. Ich kann mich an viele Aktionen erinnern, wo schon in den siebzigern bei den Hörern beliebte Sendungen abgesägt wurden, weil es Differenzen zwischen Moderatoren und Programmdirektoren gab. Und dümmlich war das normale Tagesprogramm auch früher schon, wenn man wirklich gute Musik und wirklich gute Wortbeiträge hören wollte, musste man auch früher schon in die Abendstunden ausweichen, wenn der Plebs vor der Glotze saß, wurde den Radiomachern mehr Freiheit zugebilligt.

Hier bei uns im Westen habe ich sogar manchmal den Eindruck, dass das Radio versucht, mit klassischen Sendeformaten zumindest zu experimentieren - die ehemals abgesägte Professor Bob Show von und mit Götz Alsmann hat z.B. auf WDR4 im Samstag nachmittags Programm einen deutlich erweiterten Platz gefunden, und Guildo Horn probiert ebenfalls samstag nachmittags auf WDR4, die Vibes der Sendung "Diskothek im WDR" aus den siebzigern rüberzubringen.

Dazu kommt noch etwas, was von Euch scheinbar niemand auf dem Schirm hat, das Internet. Ich habe ja trotz meines gesetzten Alters zwei spätgeborene Töchter - für uns war damals das Radio das Medium, aus dem wir unsere Musik holten, zumindest einen großen Teil unserer Musik, schaut Euch mal an, wo die jungen Menschen von heute ihre Musik herholen, und wer davon heute noch Radio hört - Ihr werdet kaum noch jemanden finden.

Das Internet hat gegenüber dem klassischen Radio einen gravierenden Vorteil, der das traditionelle Radio mittelfristig obsolet machen wird, und der nennt sich Rückkanal oder "On Demand". Über das Internet kann man frei bestimmen, WAS man sich anhört, und WANN man es sich anhört. Um die o.g. Sendungen von WDR4 hören zu wollen, muss man sich z.B. nicht mehr samstags vors Radio setzen - man kann sie von den Webseiten der ARD Sender oder aus der ARD Audiothek jederzeit streamen, und teilweise für unterwegs als Podcast runterladen. Wenn man im Auto das Sendegebiet verlässt, läuft der Heimatsender trotzdem weiter, und wenn man unterwegs aufs Klo oder einen Kunden besuchen muss, schaltet man auf Pause und hört danach weiter.

Im Internet gibt es auch keine Beschränkungen bei den Programmplätzen. Das führt a) dazu, dass die offiziellen Radiosender massenhaft Spartenkanäle im Netz haben und b) dazu, dass auch private Anbieter ohne viel Geld eine Chance haben. Ein schönes Beispiel hierfür ist für mich Radio Popstop, das zu großen Teilen von Moderatoren bedient wird, die in der "guten alten Zeit" vom öffentlich rechtlichen Radio trotz Popularität aussortiert wurden. Auf Radio Popstop könnt Ihr gutes altes Radio ohne Jingles haben, wo die Titel zuende gespielt werden und kein Bassgegrummel läuft, wenn der Moderator spricht.

Das heutige Radio ist deshalb so nervig, weil es immer lauter brüllen muss, um zwischen den ganzen Angeboten überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Und natürlich ist auch der Kosten- und Arbeitsdruck massiv gewachsen, es macht schon einen Unterschied, ob drei Programme plus gemeinsames ARD Nachtprogramm betreut werden müssen, oder hunderte von Kanälen und Online-Angeboten. Die meisten Leute, die heute noch normales Radio nutzen, hören Privatfunk mit "dem besten Mix", und die öffentlich rechtlichen Sender passen sich an, weil sie ansonsten noch weniger gehört werden. Es mag ja sein, dass es noch einen hohen Prozentsatz an Radiohörern gibt, das liegt aber hauptsächlich an den ganzen Alten - für Leute unter 30 existiert das klassische Radio überhaupt nicht mehr, vor allem auch deshalb, weil es Dienste wie Spotify oder Amazon Music gibt. Hier gibt es für jede Musik- und Stimmungsrichtung "Radiokanäle", die genau das tun, was Ihr wollt - Musik von Anfang bis Ende spielen und keine nervigen Jingles und Bassuntermalungen drunterzulegen. Podcasts aller Art gibt es auch, gezieltes Auswählen von Musik ist möglich und man kann sich persönliche Playlists zusammenstellen. Wie soll das alte Radio da noch mithalten können ? Stellt Euch mal vor, Ihr hättet damals die Möglichkeit gehabt, Eure Lieblingsmusik überall und jederzeit so aus dem Radio hören zu können, als ob Ihr eine Platte auflegt. Hättet Ihr da noch normales Radio gehört ?

Ich kann nur jedem empfehlen, weniger den kulturellen Weltuntergang heraufzubeschwören, sondern lieber mal zu schauen, was es heutzutage alles gibt. Zu Euren Statements fällt mir wieder mal nur der folgende Spruch ein:

Die Menschen sehnen sich heute nach einer Zeit zurück, in der man sich nach dem gesehnt hat, was heute Realität ist.

in diesem Sinne

Gruß Frank
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