Pretty Things in Tübingen - im Sudhaus auf Siedetemperatur
#1
Die Pretty Things entstanden etwa 1963/64. Gitarrist Dick Taylor hatte, so heisst es jedenfalls, mit Keith Richards und Mick Jagger in einer Band gespielt und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Rolling Stones. Nach Zugang von Brian Jones sollte Tayler an den Bass wechseln, zog es aber vor, sein Kunststudium zu beenden um dann mit den "Pretty Things" zu starten. Nik Cohn lässt an den Pretties in seinem Buch "A wop ..." kein gutes Haar, das Rocklexikon übernimmt diese Bewertung. Herrausragendstes Merkmal der Band war es demzufolge, daß sie die Stones wie Chorknaben aussehen lassen wollten - sie waren auf wüst und abstoßend getrimmt. Anhand von alten Photos kann man das nur noch sehr schwer nachvollziehen, die Buben würde heute als adrett und pausbäckig durchgehen, aber damals gingen die Uhren anders. Über 40 Jahre gibt es die Band schon, hat eigenem Bekunden zufolge hauptsächlich Tiefen und Desaster erlebt, und als Anspielung auf die Blues-Brothers, die personifizierten Stehaufmännchen, erscheint man (überwiegend) in schwarzen Sakkos und Sonnenbrillen zum Konzert. Das Tübinger Sudhaus bietet das passende Ambiente für einen Ausflug back to the sixties, das Konzert beginnt relativ pünktlich mit nur einer halben Stunde Verspätung.

Die Band war mir nur vom Namen her bekannt, ich wusste nicht, auf was ich mich da einliess und die ersten 3 Stücke waren enttäuschend. Die Songs waren o.K., aber es holperte vor sich dahin, nichts wollte passen und zünden, kein Vergleich mit den Yardbirds, die ich zuletzt an gleicher Stelle gesehen hatte. Als Störfaktor Nr. 1 hatte ich den Drummer ausgemacht, der arbeitete wie ein Holzhacker. Der Tiefpunkt war erreicht, als er zu einem ebenso langen wie uninspiriertem Solo ansetzte. Für die akustische Qual entschädigte die Optik. Es war lustig anzusehen, wie die 5 Kollegen um ihn herumstanden, ihn anfeuerten und beim Zählen behilflich waren. Danach konnte es nur noch besser werden - und das wurde es auch.

Das Solo hatte dem Drummer insoweit gut getan, daß er ab da zwar nicht virtuos Schlagzeug spielte, aber einen soliden, kompakten Beat trommelte, der den Kollegen eine Basis lieferte. Das Zusammenspiel klappte auf einmal besser und dieser Trend setzte sich rasch fort. Die Band braucht eine Weile, um sich warm zu spielen. Auf Betriebstemperatur gebracht, waren die Leistungen beachtlich. In den über 40 Jahren der Karriere haben die Pretties eine großes Repertoire aufgebaut. Es gibt keine schwachen Songs. Das Material ist abwechslungsreich beinhaltet krachende Rocker und ruhige Balladen, auch akustisches. Bluesnummern, oft eine Notlösung, werden zu Highlights. Hut ab - viele Bluesbands langweilen mich. Die Pretties nicht. Zugute kommt der Band, daß die instrumentalen Fähigkeiten zwar nicht sehr hoch sind, aber breit verteilt. Keyboarder Alan Povey spielt sehr perkussiv an den Tasten, gibt mal den Aushilfspercussionisten an den Congas und verscheucht schon mal den Drummer von seinem Sitz, nimmt selber Platz hinter dem Drumkit und spielt, was nicht geklopft sondern hingetupft sein muss. Gitarrist Frank Holland legt solange die E-Gitarre zur Seite und kümmert sich um die verwaisten Tasten. Gitarrist Dick Taylor kann auch Bass, den er zeitenweise spielt wie eine Lead-Gitarre, und der Bassist greift solange zur Akustik-Klampfe. Der arbeitslose Drummer filmt das alles mit der Video-Camera für das nächste DVD-Set. Dann nimmt er wieder seinen Arbeitsplatz ein, klopft einen immer solider werdenden Beat und treibt die Band an, bis zum Abheben, was mitunter vorkommt. Einziges Bandmitglied ohne Nebenjob ist der Sänger Phil May, der in Gestik und Aussehen ein wenig an Eric Burdon erinnert, ohne dessen stimmliche Urgewalt zu erreichen. Dafür kann er heute noch ein ganzes Konzert durchsingen, Burdon nicht mehr. Alan Povey, der Generalist an den Keyboards, spielt neben den Drums auch Mundharmonika, singt und gibt den Conferencier. Wie in britischen Beatbands oft üblich, singen die meisten Bandmitglieder, 5 der 6 Akteure haben ein Gesangsmikrofon vor sich stehen. So gelingt der immer druckvoller spielenden Band vor allem eines: Sie ist keinen Augenblick langweilig, sie wirkt überzeugend, sie schafft mit wenig Mitteln gute Musik.

Die vorher erwähnten begrenzten instrumentalen Fähigkeiten gelten nicht für eine Person: Dick Taylor. Der Mann scheint überhaupt nicht zu der Band zu passen. Als einziger trägt er, anders als auf dem Photo, keinen schwarzen Anzug, sondern ein kleinkariertes, kurzärmeliges Hemd undefinierter Farbe. Die Hose ist zu lang, wirft an den Schuhen Falten. Klein und schmächtig steht er auf der Bühne, das grauschüttere, kurze Haar steht etwas zerzaust vom Kopf, und mit sorgenvoll gerunzelter Stirn guckt er über die den feinen Goldrand seiner Brille hinweg, die ganz vorne auf der Nase sitzt. So sieht kein Rock-Gitarrist aus, sondern ein pensionierter Buchhalter, den man aus seinem Schrebergarten auf die Bühne entführt hat. Dort beweist er allerdings nachhaltig, daß er sich hinter den gesammelten Stones-Gitarristen nicht zu verstecken braucht. Vielleicht wäre er der beste Mann für den Job gewesen? Er spielt souverän und abgeklärt wie ein Buddah, der im Nebenjob Mentalcoach und Gitarrelehrer von Eric Clapton sein könnte, und beobachtet dabei etwas irritiert-amüsiert seine Kollegen, so wie ein Opa, der mit seinen rebellischen Enkeln einen Ausflug auf den Spielplatz gemacht hat und das wilde Treiben verfolgt. Ob Dick Taylor technisch wirklich gut ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich habe selten jemanden so inspiriert und beseelt spielen gehört wie ihn, egal ob elektrisch, akustisch oder am Bass. Angestrengte Soli sind seine Sache nicht, daß überlässt er dem Kollegen, der gerne und gar nicht schlecht den Gitarrero gibt.

Die hier angetretene Besetzung, Phil May voc, Dick Taylor g, Skip Allen dr, Wally Allen b, Alan Povey kb, stammen aus der Besetzung von 1967, Gitarrist Frank Holland, ist erst seit 1989 dabei. Die Songs stammten überwiegend aus der Frühzeit der Band. Nach den agilen, spieltechnisch versierten Yardbirds war das die etwas rustikalere Variante des britischen R&B. Das Publikum war begeistert und erklatschte sich 3 Zugaben.


.................[Bild: The_Pretty_Things.jpg]
Michael(F)
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#2
Hallo Michael,

danke für den informativen Bericht! So weiß ich wenigstens, was ich versäumt habe. Vielleicht lassen sie sich ja auch mal in Hamburg blicken.

Da die Musik der Pretty Things für Dich neu war, möchte ich Dir (und anderen Interessierten) ein paar Plattentips (und Antitips!) geben.

Die R&B-Phase der Things ist vor allem auf den beiden ersten LPs The Pretty Things (1964) und Get The Picture (1965) dokumentiert. Da rotzen sie die Sachen hin, hart und kompromißlos, selbst bei ruhigen, langsamen Titeln ist die rohe Energie spürbar. Die Musik ist rauh und ungehobelt und unverkennbar von den frühen Stones beeinflußt, die sie wohl in dieser Hinsicht noch übertreffen wollten, was ihnen auch gelang. Wer britischen R&B mag, sollte diese beiden Platten im Regal stehen haben!

Die nächste Scheibe erschien erst 1967, und zwar in der Besetzung, die Du erlebt hast (mit Ausnahme von Frank Holland natürlich). "Emotions" hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Man war vom ursprünglichen R&B abgekommen und versuchte sich, unter dem Eindruck von "Revolver" etc., an vermeintlich anspruchsvolleren Songs. Das ist zum Teil auch gelungen, die LP hat einige wirklich gute Momente. Die Originalität der beiden ersten Alben, mit denen sie sich von ihrer Konkurrenz deutlich abheben konnten, war aber dahin. Sie waren nun eine gute Band unter vielen. Dazu mußte die Platte noch unter der Produktion leiden, denn ohne Wissen der Band war den Songs ein Arrangement mit Streichern und Bläsern hinzugefügt worden, wodurch einige Titel regelrecht vermurkst wurden. Trotzdem ist es die teuerste Things-LP: für die Originalpressung auf Star-Club Records muß auf Plattenbörsen richtig Geld hingelegt werden.

Mit "S.F. Sorrow" legten die Pretty Things 1968 die erste Platte des neuen Trends "Rock-Oper" vor, noch bevor die Who mit "Tommy" das wohl bekannteste Werk dieses Genres schufen. Meiner Ansicht nach ist auch das eine gute Platte, aber nichts Herausragendes.

Soweit die LPs der 60er. Einige gute und wichtige Songs der R&B-Phase erschienen damals nur auf Singles und EPs und sind auf verschiedenen Compilations wiederzufinden.

Zum Einstieg bieten sich die beiden etwa 1973 erschienenen LPs der "Attention"-Serie an. Neben wichtigen Titeln aus den ersten zwei LPs sowie einigen Single-Titeln sind auch Songs aus "Emotions" enthalten. Die beiden Platten sind häufig und preiswert auf Flohmärkten etc. zu finden.

Zitat:Herrausragendstes Merkmal der Band war es demzufolge, daß sie die Stones wie Chorknaben aussehen lassen wollten - sie waren auf wüst und abstoßend getrimmt. Anhand von alten Photos kann man das nur noch sehr schwer nachvollziehen, die Buben würde heute als adrett und pausbäckig durchgehen, aber damals gingen die Uhren anders.
Welche alten Bilder Du Dir angesehen hast, weiß ich nicht, aber was hältst Du von diesen:

[Bild: pthings1.jpg]

[Bild: pthings2.jpg]

[Bild: pthings3.jpg]

Ein Schock für die konservative Erwachsenenwelt der 60er waren sie auf jeden Fall! Ich kann mich noch gut an die Kommentare meiner Eltern erinnern, die ich über mich ergehen lassen mußte, als ich mein Zimmer mit ein paar Bildern der Pretty Things geschmückt hatte...

Selbst die nicht gerade überempfindliche "Musikparade" stellte die äußerliche Erscheinung der Pretty Things in den Vordergrund und regte sich darüber auf, und die "Star-Club News" (aus der übrigens die Bilder stammen) schrieb 1965 nach einem Auftritt der Pretty Things im Star-Club (!): "Jedenfalls befriedigte die Leistung ... keinesfalls. Sie stand unter dem Niveau, das sowohl deutsche wie englische Durchschnittsbands bieten.". Ob da die hartgesottene Crew um Manfred Weissleder etwas voreingenommen war?

Gruß, Wolfgang
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#3
Ja, so sehen sie auf den Coverphotos, die ich gemeint habe, aus. Das war schlimm??? "Sind doch adrette Jungs" hätte meine Oma gesagt, aber das vielleicht nicht zu der damaligen Zeit. Der an der Gitarre sieht aus wie Andreas. Jetzt weiss ich wenigstens, wie er im Rentenalter aussehen wird.
Photo im ersten Posting, zweiter von rechts.
Michael(F)
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