Modellierung der TB-Wiedergabe
#1
Liebe Gemeinde,

ich wollte aus verschiedenen Gründen mit dem Wiedergabeverstärker der B77 Frequenzganguntersuchungen simulieren. Dass dabei etwas Brauchbares herauskommt, braucht man am Wiedergabekopf einen Frequenzgang, der der Wiedergabe eines Bezugsbandes am realen Tonkopf entspricht. Da hatte ich ja eine tolle Idee [Bild: sad.png].

OT:
HEUREKA!
So ähnlich muss sich Pythagoras gefühlt haben, als er beobachtete, wie seine Badewanne beim Einsteigen überlief und ihm aufging, dass er so den betrügerischen Goldschmied des Königs überführen konnte. Am Ende verstand er noch den Auftrieb und revolutionierte damit den Schiffbau ..

Im April '20 habe ich meine erste Simu gemacht. Dieses Projekt jetzt war die bisher härteste Nuss.
Der Knackpunkt war, wie bekommt man den Amplituden-Frequenzgang des Band-Kopf-Systems da rein?
Frequenzgänge kann man in LTSpice leicht mit Ersatzschaltungen aus R, L, C realisieren. So bekommt man z. B. leicht Modelle für die Bezugsbänder hin, da diese mit RC-Zeitkonstanten spezifiziert sind.
Das Band-Kopf-System und mehr werden sehr schön beschrieben in "Peter van Bommel: Die Entzerrung in der magnetischen Schallaufzeichnung". Auch alle notwendigen Formeln für eine Modellierung finden sich. Leider lassen sich diese Formeln nicht mit R-L-C - Schaltungen abbilden.
In LTSpice stehen alle gängigen mathematischen Funktionen zur Verfügung, um Kennlinien oder ein Zeitverhalten zu modellieren. Leider gibt es das offenbar nicht für den Frequenzbereich! Das einzige was es gibt, sind einige wenige Komponenten wie die "arbitrary behavioral voltage source", der man einen Vektor aus Tripeln (Frequenz, Dämpfung, Phase) übergeben kann. In meinem Beispiel sind das 400 Tripel (je 100 für vier Dekaden von 10Hz...100MHz). Das gibt eine lausige B - Note aber die A - Note ist eine 6,0! Das sieht, wenn man es erst mal hingekriegt hat, ganz einfach aus. Ohne tagelanges Gurgeln? - keine Chance.
Nun braucht es nur noch die Werte-Tripel für den Frequenzgang. Die rechnet Excel gerne aus, das frisst jede Formel. Und mit notepad++ ist das auch bald in die benötigte Form gebracht.

Als Neurentner und im Winter (im ungeheizten Bastelkeller ist es zu kalt) habe ich mir mal die Zeit genommen.
Ansonsten: I´M THROUGH WITH IT! Auch in seiner Zweideutigkeit: Es ist fertig geworden UND es ist jetzt aber auch genug. Nur gut, dass alle Haare schon vorher grau waren.
Hat sich das gelohnt? Für mich auf alle Fälle. Neben der Möglichkeit, jetzt am Modell alles Mögliche ausprobieren zu können, habe ich dabei auch die TB-Wiedergabe bis ins letzte Detail verstehen gelernt (glaube ich). So weiß ich jetzt viel besser, wo man bei Fehlern suchen muss, was man wo vielleicht optimieren kann und was man nicht verändern sollte.
OT - Ende

Wer an einem TB-Wiedergabeverstärker modellieren möchte, wird das folgende gerne lesen.
ABER auch wer nie modellieren möchte, sollte sich die Zeit vielleicht nehmen. Denn nebenbei erfährt man einiges zu den Themen Band-Kopf-System, Bezugsband, Wiedergabe-Entzerrung. Ich versuche, mich so kurz und verständlich wie möglich zu halten.

Die Aufgabe der Entzerrung eines Wiedergabeverstärkers besteht darin, die vom Frequenzgangteil eines Bezugsbandes in den Wiedergabekopf induzierte Spannung mit linearem Frequenzgang auszugeben.
Es gibt dabei zwei Dinge zu entzerren:
1. den genormten Frequenzgang des Bezugsbandes
2. den Frequenzgang des Band-Kopf-Systems, d.h. die "Fehler", die bei der Induktion durch den Magnetfluss des Bandes in den Kopf entstehen.

zu 1.:
Ein Bezugsband BB19H (19,05cm/s Heim-Norm, d.h. NAB) z.B. hat zwei Zeitkonstanten: Eine Tiefenanhebung ab τ1=3180µs (50,05Hz) und eine Höhenabsenkung ab τ2=50µs (3183Hz). Warum? Das wäre ein nächstes Thema ...
Das sieht so aus:
   

zu 2.: (ausführlich im Buch, s.o.)
Das Band-Kopf-System ist wesentlich durch drei Phänomene gekennzeichnet:
1. Der ω-Gang.
Aus dem Induktionsgesetz folgt, dass die induzierte Spannung linear proportional mit der Frequenz steigt. Also, mit 200Hz wird doppelt soviel Spannung erzeugt, wie mit 100Hz.
2. Die Bandflussdämpfung DΦ
Sie setzt sich aus zwei Teilen zusammen.
Der wesentliche Teil ist die Schichtdickendämpfung Dd. Diese führt zu einem Höhenabfall, wenn die Wellenlänge auf dem Band in die Größenordnung der Magnetschichtdicke des Bandes kommt. Sie hängt also NUR von der Bandgeschwindigkeit und der Schichtdicke des Bandes ab! Nicht vom Bandmaterial oder sonst was. Da gibt es also in der Praxis keine relevanten Toleranzen und demnach auch nichts abzugleichen! Daraus folgt aber auch, dass andere Banddicken einen anderen Frequenzgang haben. Verwendet man also Doppelspielband und Langspielband, bräuchte man eigentlich eine umschaltbare Entzerrung (im Aufnahmeverstärker).
Wesentlich schwächer wirkt sich die Abstandsdämpfung Da aus, zu vernachlässigen ist sie aber nicht. Sie führt zu einem Höhenabfall, wenn die Wellenlänge auf dem Band in die Größenordnung des Abstandes des Bandes zur Tonkopfoberfläche kommt. Ich habe zu diesem Abstand keine Angaben gefunden. Ich habe deshalb in meinem Excel-Sheet so lange dran "gedreht", bis die entstehende Kurve möglichst genau so aussah, wie die entsprechende Kurve im genannten Buch.
3. Die Spaltbreitendämpfung DS
Diese führt zu einem Höhenabfall, wenn die Wellenlänge auf dem Band in die Größenordnung der "effektiven Spaltweite" des Wiederkopfes kommt und verläuft dort sehr steil. Wenn die effektive Spaltweite gleich der Magnetwellenlänge ist, kommt es sogar zur Totalauslöschung! (Das kann man dazu nutzen, sie zu messen. Wenn es in meinem Bastelkeller wieder wärmer ist, werde ich das mal tun.) Bei Bandgeschwindigkeiten ≤ 19,05cm/s stellt die Spaltbreitendämpfung das Hauptproblem dar. Die "effektive Spaltweite" ist  lt. Literatur ca. 15...20% größer als die mechanische. Die wirksame Spaltbreite vergrößert sich übrigens rasant mit geringfügigster Schrägstellung des Kopfes. Hier kann man gar nicht pingelig genug sein!
Auch hier ist die einzig mögliche Toleranz die der Kopfspaltbreite. Wenn man hofft, dass die Kopfhersteller diese Toleranz vernachlässigbar im Griff hatten, gibt es auch hier nichts abzugleichen!

Schön sehen kann man all das in diesen Excel-Grafiken:

19cm/s, 2µm Kopfspalt, Langspielband:
   

dto., 9,5cm/s:
   

Das Excel-Sheet befindet sich im Anhang. Da kann jeder selbst mit Bandgeschwindigkeit, Kopfspaltbreite und Schichtdicke spielen. So bekommt man ein gutes Gefühl für die Problematik.

Den Gesamtfrequenzgang des Band-Kopf-Systems zeigt die Kurve "ω+DEMK". Der Wiedergabeverstärker muss also mit der reziproken Kurve "ω+DEMK-Entz." entzerren. Wie Anfangs OT gesagt, habe ich mir die Arbeit mit Excel nicht dieser Grafiken wegen gemacht, sondern um mir den EMK-Frequenzgang auszurechnen, den ich für das Modell brauche. Die Grafiken sind quasi mit abgefallen.
Zusätzlich muss der Wiedergabeverstärker noch den Frequenzgang des Bezugsbandes durch eine reziproke Entzerrung kompensieren.

Wie wir später sehen werden, wird im Wiedergabeverstärker der B77 die Entzerrung in zwei Netzwerke aufgeteilt. Ein RC-Netzwerk entzerrt den ω-Gang und das Bezugsband. Das ist der simple Teil. Übrig zum Entzerren bleibt DEMK. Das ist der komplizierte Teil. Deshalb habe ich die Kurve "DEMK-Entzerrung" noch explizit ins Diagramm mit aufgenommen.

Diese Theorie vorab musste leider sein, sonst versteht man das Folgende nicht. Aber jetzt kommt Butter bei die Fische, wir simulieren.

Hier die Gesamtschaltung:
   

Im Block "EMK" wird der Frequenzgang des Band-Kopf-Systems realisiert und liegt an den Ausgängen "EMK19.05" bzw. "EMK9.525" an. (Die anderen brauchte ich zum debuggen und "forschen".) Das war der schwierige Teil des ganzen Projekts. Hier stecken die Werte drin, die ich mir mit Excel errechnen musste.
Im Beispiel wird das Signal "emk19" zum Block "BB" geführt. Hier stecken die Frequenzgänge folgender Bezugsbänder drin:
- BB19H: 19,05cm/s Heim-Norm (NAB): 3180µs, 50µs
- BB19S: 19,05cm/s Studio-Norm (CCIR): 70µs
- BB9.5 :  9,525cm/s: 3180µs, 90µs
Im Beispiel wird das Signal "bb19h" zum Block "HiZ" geführt. In "HiZ" steckt eine Spannungsmodulierte Stromquelle, um die Generatorspule "Lgen" möglichst hochohmig zu treiben. (Die Begründung dieser Notwendigkeit folgt weiter unten.)
"LWK" als Sekundärspule des Trafos stellt den Wiedergabekopf dar. Dieser Eingangstrafo ist notwendig, da der B77-WVV erdfrei gespeist werden muss. Und seine Induktivität wird auch noch gebraucht ...

OT:
Im SM zur B77 steht: "Der Wiedergabekopf ist an die Eingangsstufe DC-gekoppelt." Das ist eine glatte Marketing-Lüge. Am heißen TK-Anschluss sieht das ja auch so aus. Aber der Tonkopfstrom muss durch B, E von T1 und von dort zurück zum kalten TK-Anschluss. Und dieser Weg führt über RE1 nach Masse und von da über den riesigen C1 zum TK zurück. Das ist ja o. k. so, ohne mindestens eine negative Betriebsspannung kann man nichts auf Masse-Niveau DC-gekoppelt einspeisen. In der A700 sieht man eine wirkliche DC-Einkopplung. Mit OpAmps ist das aber auch Pflicht!
OT Ende

So jetzt sind wir endlich im WVV der B77! Ich habe die Bauelemente so benannt, dass sie auf ihre Funktion hinweisen. Dann findet man sie schneller.
Ich simuliere als erstes mal ohne DEMK, Wir haben dann noch drin den ω-Gang und das Bezugsband. Dazu führe ich "omega" vom Block "EMK" zum Eingang von Block "BB". Der Rest bleibt (fast) wie gehabt. Ein extra Bild kann ich mir deshalb hier sparen. Und ich nehme Co, die Resonanzkapazität für den TK raus. Warum sehen wir später.
Warum das Ganze? Das RC-Netzwerk zwischen C2~ und E1 zusammen mit RE1 realisiert nämlich genau die Kompensation des ω-Gangs und des Bezugsbands. Das ist der einfache Teil und heraus kommen sollte ein Frequenzgang wie ein Strich!
Voilà:
   

-1dB bei 20Hz und >20kHz. Das kann man so stehen lassen, gelle?

So jetzt kommt der Moment, wo der Elefant das Wasser lässt. Wir wollen ´s wissen, stellen den oben gezeichneten Originalzustand wieder her (BB wird mit emk19 gespeist und Co kommt wieder rein).

Hier noch eine kurze Begründung für den Block "HiZ": LWK und Co sollen resonieren. Dazu darf LWK nicht durch die Quellimpedanz von Lgen bedämpft werden. Da Lgen seinen Quellwiderstand nach LWK transformiert, muss der Quellwiderstand für LWK möglichst groß sein. (Realisiert wurde das durch eine spannungsmodulierte Stromquelle.)

Schauen wir mal, wie die Kompensation von DEMK gelingt:
   

Hmm, das sieht auf den ersten Blick nicht so prickelnd aus! Am unteren Ende bleibt alles wie gehabt - klar, da gibt es kein DEMK. Aber -10dB bei 10kHz wollen wir eigentlich nicht haben!
Aber auf den zweiten Blick ist der Fehler recht gering. Bei 1kHz beginnt ein langsamer aber stetiger Abfall, der sich bis 10kHz zu -10dB aufsummiert.
Was nun? Es gibt zwei Möglichkeiten:
1. Es ist wirklich so. Das traue ich aber REVOX wirklich nicht zu!
2. Im Modell steckt ein Fehler. Und wenn ich daran denke, wie ich die EMK hier zusammengebastelt habe, z.B. Da nach Aussehen geschätzt, die "effektive Kopfspaltbreite" auch nicht genau bekannt ...

Nur um zu zeigen, wie klein der Fehler ist, habe ich mit Ckorr und Rkorr ein Korrekturglied ausprobiert: Eine Anhebung mit einer fG von 3215Hz, die bei 11659Hz endet. Das sieht dann so aus:
   

Ja, so hätten wir es gern!! Aber wie gesagt, ich denke, diese Korrektur gehört in den Block EMK.

Was habe ich bis hier schon gelernt? [Bild: lightbulb.png]

Nicht wirklich so bewusst war mir bisher die Auftrennung der Entzerrung in den Teil 1 für den ω-Gang und das Bezugsband mittels RC-Netzwerk und den Teil 2 für den EMK-Verlauf. Und das letzterer nur mit einem Schwingkreis passender Resonanzfrequenz und Güte kompensiert wird. Das ist schon erstaunlich. Während es für Teil 1 einen exakten mathematischen Zusammenhang gibt, sehe ich den für Teil 2 nicht. Aber wenn es so passt, ist alles prima.

Schon beim ersten Ansehen habe ich mich über den riesigen C1 gewundert. Aber wenn man eine Simu hat, kann man ja mal mit spielen. Und siehe, mit C1=1mF beginnt eine Überhöhung von 0,5dB bei 60Hz, mit C1=100µF gibt es +3dB bei 160Hz. Dazu würde ein R=10Ohm passen. Den sehe ich aber nirgendwo. Also ich weiß nun immer noch nicht warum, aber aus Frequenzganggründen ist 1.6mF offensichtlich notwendig. Und 4.7mF wären das absolute sinnvolle Maximum, dann ist es bis 10Hz horizontal.

Wie nun weiter? Jetzt kommt, ja echt, Lenin ins Spiel: "Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit!" D. h. ein Bezugsband muss über die Maschine geschickt und vermessen werden. Dazu brauche ich zweierlei: Ein BB19H und einen wärmeren Keller. Dann melde ich mich wieder.

In rust we trust!
Frank

P.S.: Das Innenleben der Blöcke EMK, BB und HiZ habe ich hier aus Platzgründen nicht gezeigt. Das interessiert aber wohl auch nur diejenigen, die selber simulieren wollen. Und die finden sie in den LTSpice-Dateien, die ich auch anhänge.

EDIT: Für das Spice-Modell und das Excel-Sheet gibt es in #41 aktualisierte, verbesserte Versionen.


Angehängte Dateien
.zip   B77.ReproduceAmp_Spice.zip (Größe: 377.93 KB / Downloads: 10)
.xls   EMK.xls (Größe: 259 KB / Downloads: 10)
In Rust We Trust!
T e s l a  B 1 1 6 (A.D.),  R E V O X  B 7 7
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
Modellierung der TB-Wiedergabe - von DropOut - 15.01.2021, 23:22
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 16.01.2021, 00:27
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von JUM - 16.01.2021, 09:16
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 16.01.2021, 10:57
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von uk64 - 16.01.2021, 19:09
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von JUM - 16.01.2021, 23:48
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 16.01.2021, 18:53
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 17.01.2021, 13:19
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 17.01.2021, 14:47
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 24.01.2021, 18:15
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 25.01.2021, 07:39
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 25.01.2021, 10:39
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 25.01.2021, 11:19
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 25.01.2021, 15:07
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 27.01.2021, 17:53
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 28.01.2021, 02:10
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 29.01.2021, 18:09
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 01.02.2021, 11:54
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 03.02.2021, 10:49
RE: Modellierung der TB-Wiedergabe - von kaimex - 09.02.2021, 11:45

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste