Datenreduziertes Musikhören macht müde!?
#8
was mir an der modernen Zeit ehrlich gesagt am meisten auf den Keks geht, ist das Vorgehen der Journaille, zuerst das Ergebnis eines Artikels zu definieren, und dann so lange zu schwurbeln, bis das Gewünschte dabei herauskommt.

Die These dieses Artikels lautet: Komprimierter Digitalklang nervt uns, also nicht nur den Schreiberling dieses Artikels, sondern uns alle. Anschliessend wird alles in einen Topf geschmissen - Telefonkonferenzen, komprimierte Musik, Loudness War, das bei analogen wie digitalen Aufnahmen den Klang gleichermaßen versaut, gekrönt von Formulierungen mit esotherischem Touch wie humanisierter Musik und die High End Weisheit, dass nur Röhre den wahren Klang produziert.

Mich nervt nicht, dass bestimmte Gegenwartsphänomene kritisch durchleuchtet werden, auch ich finde es total schade, dass gute Musik wegen der Klangqualität unhörbar wird. Es ist aber schlicht eine Lüge, wenn behauptet wird, dass die untersuchten Stress Symptome nur bei digitalen und komprimierten Audiosignalen auftreten. So lange es elektronische Musikwiedergabe gibt, wird darüber diskutiert, wie viele Mängel des Audiosignals vom Gehirn kompensiert werden können. Es gab Abhandlungen in seriösen Fachzeitschriften, die wissenschaftlich belegten, dass Musik von der Schallplatte überhaupt nur anhörbar ist, weil sie vom Gehirn "nachbearbeitet" wird. Es gab Tonbeispiele von krächzender hohl klingender Musik, die verdeutlichen sollten, wie sich Schallplatten anhören würden, wenn das Gehirn das Signal ungefiltert durchlassen würde. Und es gab Jünger, die dem einen wie dem anderen Glauben angehörten.

Ich glaube, der wahre Grund des Digitalbashings, das von bestimmten Kreisen einfach nicht aufgegeben wird, liegt ganz woanders. In der guten alten Röhrenzeit konnten nur wenige Leute professionell Musik produzieren, und ebenso wenige konnten diese in HiFi Qualität hören, weil die Geräte einfach unbezahlbar teuer waren. Mit der Transistortechnik setzte etwas ein, das man neudeutsch als Demokratisierung bezeichnet - es kamen bezahlbare Heimstudiogeräte auf den Markt, und der Umgang mit den Geräten wurde einfacher. Mit der Digitalisierung kam etwas hinzu, was man in der Bildbearbeitung als non destruktiv bezeichnet, sprich, durch den Computer konnte man jetzt im Studio kreativ mit den Aufnahmen arbeiten, ohne die Originale zu zerstören, und ohne beim Mischen und Kopieren einen Qualitätsverlust zu erzeugen. Zu Analogzeiten wurde die Mehrspur Aufnahmetechnik von wahren HiFi Jüngern abgelehnt, weil beim Hin- und herkopieren Informationen verloren gingen. Hinzu kommt, dass die Digitaltechnik nochmal zu einer deutlichen Verbilligung der Geräte geführt hat, das Internet bietet heute eine Vertriebsplattform für jedermann, und die digitale Audiotechnik hat dazu geführt, dass es auf der Hörerseite selbst in der unteren Preisklasse kaum noch unbrauchbare HiFi Geräte gibt. War früher der Besitz der Technik ein wichtiges Kriterium, ist heute nur noch das Können von Bedeutung. Wie jede Veränderung macht auch dieser Trend alte Königreiche überflüssig, und wie immer teilen sich die Königreiche in zwei Gruppen auf - die einen fügen sich in das Unvermeidliche und sehen zu, dass sie auch auf die neue Zeit einen gewissen Einfluss haben, die anderen verschanzen sich hinter ihren alten Werten und machen alles runter, was nicht in das Bild passt. Der Schreiber des hier diskutierten Artikels gehört eindeutig zur zweiten Gruppe.

Ich bin ein großer Fan der Geräte aus der Dampfradio-Ära. Das, was der Mensch hier über den "vollen" Klang der Zeit vor der Transistortechnik schreibt, ist vorsichtig formuliert etwas undifferenziert. Ich habe in meiner Sammlung ein Beispiele für das, was Anfang
der Fünfziger "State Of The Art" war - eine Grundig Truhe 9010 von 1952. Die hat eine 25 Watt Gegentaktendstufe mit zwei EL12/375 eingebaut und ist mit der ersten Plattenspielergeneration bestückt, die es mit Magnetsystem gab. Diese Truhe klingt in der Tat genial gut, witzigerweise aber besonders dann, wenn man die alte Fünfziger Jahre Musik nicht von der Platte oder vom eingebauten Bandgerät, sondern von einem IPod einspielt - als mp3 mit 128kBit/s . Wenn der Schreiber des Artikels dies einmal hören würde, würde das wahrscheinlich sein Weltbild auf den Kopf stellen. Hinzu kommt, dass die 9010 neu 3250 DM gekostet hat - zu einer Zeit, wo ein Facharbeiter gut verdient hat, wenn er im Monat 200 DM in der Lohntüte hatte. 16 ( in Worten sechzehn ) Monatslöhne, jeder kann sich selber mal ausrechnen, was er sich heute dafür an Audiotechnik ins Haus stellen könnte, und ob diese dann so klingen würde, dass sie Stress im Gehirn verursacht. Die normalen Feld-/Wald- und Wiesenradios, die immer noch mehrere Monatslöhne kosteten, waren klanglich bis auf wenige Ausnahmen weit von HiFi entfernt. Wenn der Autor des Artikels den basslastigen matschigen undifferenzierten Klang des Durchschnitts-Röhrenradios gut findet, sei ihm sein Geschmack gegönnt, er soll aber nicht versuchen, dies als besseres HiFi zu verkaufen.

Natürlich erhöht eine Technik, die für jeden verfügbar ist, auch die Menge an Trash, die damit produziert wird. Es ist aber unfair, dies der Technik anzulasten, immerhin führt sie auch dazu, dass talentierte Künstler eine Chance bekommen, die früher an den Mauern der Plattenkonzerne und des allmächtigen Rundfunks abgeprallt sind. Wenn man weiß, wie es geht, und den Willen hat, es auch zu tun, kann man mp3-s produzieren, die uneingeschränkt HiFi-tauglich sind, genau wie es ais der Röhren-Ära unzählige Beispiele für Geräte gibt, deren Klang nicht weniger Stress produziert hat als heute eine Skype Konferenz, die mit Smartphones geführt wird. Wenn die 20 Power Hits von K-Tel auf einem Telefunken Mister Hit gespielt in den Ohren weh tun, würde niemand auf die Idee kommen, die Technologie Schallplatte dafür verantwortlich zu machen. Wenn aber ein 64kBit/s geripptes mp3 auf einem zehn Euro Player mit 2,95 Euro Wühltisch Ohrstöpseln klanglich in den Ohren weh tut, dann ist es natürlich die böse Digitaltechnik. Ich freue mich auf den Tag, wo dieser Blödsinn endlich aufhört, und die High End Szene wieder das tut, was sie früher getan hat - die Technik nach vorne bringen, statt sie auszubremsen.

Ach ja - Stress wird im Gehirn auch dann ausgelöst, wenn die Sinneseindrücke intensiv sind. Das dumpfe Geblubber des normalen Röhrenradios hat sicher kaum Stress verursacht.

Gruß Frank
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[Kein Betreff] - von Anselm Rapp - 29.06.2015, 17:55
[Kein Betreff] - von Matthias M - 29.06.2015, 20:53
[Kein Betreff] - von lukas - 30.06.2015, 08:15
[Kein Betreff] - von Matthias M - 30.06.2015, 13:15
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[Kein Betreff] - von PeZett - 30.06.2015, 23:25
[Kein Betreff] - von nick_riviera - 19.08.2015, 08:45

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