500-1000 € sparen: ARDOUR/Ubuntu als Tonstudio-System
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Für viele Zwecke mag man mit kleinen Schnibbelprogrämmchen für MP3s und ähnliches auskommen – aber in meinem Bekanntenkreis gab’s selbst unter Leuten, die nur hobbymäßig mit Tonaufzeichnung zu tun haben, schon oft die Frage nach einem guten Aufnahme- und Bearbeitungsprogramm für Musik etc. im PC bzw. auf Festplatte. Bis vor einer Weile war meine Standardantwort dann immer: Magix Samplitude für Windows. Bis ich mehr aus Langeweile in den letzten Weihnachtsferien auf einem betagten Reserve-Rechner mal probehalber Ubuntu installiert und mich dann natürlich so ziemlich als erstes nach einem Tonstudioprogramm umgesehen habe.

Ubuntus „Antwort“ auf dieses Problem heißt „Ardour“; und für meine Begriffe hat dieses Programm derartig viel zu bieten, daß es hier zumindest mal nach einer steckbriefartigen Vorstellung der allerelementarsten Funktionen schreit, wie ich sie für die Radioarbeit nutze. (Denn es ist schade, daß offenbar nur relativ wenige Leute Ardour kennen – ich glaube, sie lassen sich was entgehen und geben möglicherweise für Konkurrenzprodukte unnötig Geld aus.)

Ardour besorgen kann man sich auf normal einfachem Wege gratis über das „Ubuntu Software Center“; die Installation auf meinem Probe-Rechner mit seiner kleinen 12-GB-Ubuntu-Partition lief gewohnt problemlos.
Besagter Rechner ist übrigens ein über sechs Jahre alter Celeron mit 1,1 GHz und 512 MB Hauptspeicher (und USB 1.1). Selbst auf diesem Ömmelchen läuft Ardour im großen und ganzen, es gibt wohl intern ein paar Abstimungsprobleme, bei denen ich mir vorstellen könnte, daß sie in einem halbwegs schnellen Pentium 4 kein Thema wären, aber das müßte man überprüfen. Könnte auch mit Konfigurationsdetails an meiner Kiste zu tun haben.

Zu Ardour gehört ein kleines Hilfsprogramm namens JACK („Jack Audio Connection Kit“), mit dem man die Verbindungen zwischen dem Programm selbst und der Soundkarte baut (das geht nicht ganz automatisch – funktioniert auf diesem meinem Alt-PC aber besser als unter dem parallel installierten Windows XP/Samplitude).
Bei meinem Celeronen dient als Audio-Schnittstelle übrigens das Edirol-USB-Kistchen UA-3FX.
JACK selbst ist ein variables Programm mit einer Menge Verstellbarkeiten (von den imaginären „Strippen“ zwischen Ein-/Ausgang und einzelnen Spuren bis hin zu Samplingraten, Puffergrößen undundund), zu dem sich viele Details hier finden:
http://wiki.ubuntuusers.de/JACK

Wo wir gerade bei Internetseiten sind – zu Ardour selbst gibt es auch eine recht umfangreiche, sie enthält technische Infos ebenso wie ein umfangreiches Forum für Anwender und kompetente Tüftler:
http://www.ardour.org/
Das Programm kann übrigens auch auf einem Apple-Rechner eingesetzt werden (!).

Was die Detailkonfiguratiönchen am Rechner angeht, habe ich auch hier noch Tips gefunden:
http://wiki.ubuntuusers.de/ardour
http://www.ubuntu-forum.de/artikel/24326...nicht.html
Teilweise muß man dazu in das Programmierfenster „Terminal“ steigen, aber das hält sich alles in Grenzen. Auch an kommerzieller Konkurrenz-Tonstudio-Software muß man schließlich häufig noch herumjustieren, bis sie knack- und aussetzerfrei läuft (ging mir jedenfalls auch auf schnelleren Rechnern so).

Ardour nennt sich schön neudeutsch „Digital Audio Workstation“ und ähnelt in vielem dem erwähnten Magix Samplitude. Letzteres schlägt allerdings preislich in einer mit Ardour vergleichbaren Ausstattung mit 500 bis 1.000 Euro zu Buche. (Und dabei hat Ardour Samplitude sogar eine spektakuläre Funktion voraus. :respekt: Aber dazu gleich mehr.)

Die Ähnlichkeiten beginnen schon beim Standard-Bildschirm: man kann mehrere Spuren (auf Wunsch eine ganze Menge) senkrecht untereinander auf den Schirm setzen. An jeder Spur lassen sich in üblicher Weise Parameter verstellen wie Pegel, Stereopanorama, EQ, Effekte etc. etc.
Auf Wunsch kann man das Mixer-Fenster aufmachen und dort Details einstellen.

Details zu den Grundeinstellungen aufzuzählen, spare ich mir. Kurz gesagt, ist hier auf Wunsch ähnlich viel verstellbar wie bei kommerziellen Programmen – es wird einem also wieder mal schwindlig.

Der Transport – man könnte auch sagen: die Geschichte mit den Laufwerktasten – verhält sich, wie man es kennt. Auch eine Aufnahmefunktion für Aufnahmen im gewohnten Bandmaschinen-Stil ist inbegriffen.
Hier stößt man nur auf einen der zwei Mängel, die Ardour für den Einsatz beim Radio aufweist: Es gibt keinen Knopf, mit dem man Schnitte probeweise vorhören könnte. Schade!! Bzw. ein Punkt, den die emsigen Programmierer hoffentlich irgendwann noch angehen (nach wie vor wird an Ardour fleißig gewerkelt).

In der „Substanz“ arbeitet Ardour wie Samplitude nicht-destruktiv: Aus dem Rohmaterial (z.B. WAV-Dateien) auf der Festplatte baut es Projekte, in denen alle Bearbeitungen der WAVs separat nach Art einer Schnittliste o.ä. gespeichert werden. Das Rohmaterial selbst bleibt unverändert (es sei denn, man will es bewußt verändern). Einzelne Bandschnipsel aus den Rohdateien kann man in den Spuren per Maus frei umher-rangieren, verblenden, schneiden etc. etc.
Weitere WAVs und andere Ton-Dateien kann man per Menü ziemlich einfach importieren. Nur für das Hereinschaufeln von Material von CDs braucht man ein separates Hilfsprogramm aus dem Ubuntu-Fundus – z.B. „Sound Juicer“.

Die Produktion eines Radiobeitrags oder einer kompletten Sendung läuft ansonsten ähnlich wie bei Samplitude (auch Pro-Tools-Erfahrene dürften sich rasch zurechtfinden), bis hin zur Herstellung einer fertig abgemischten WAV- o.ä. Datei. Einzig für das Brennen auf CD und für das Herstellen einer MP3 braucht man Zusatzprogramme (Ubuntu-Fundus, wie gehabt).

Noch mal zum Schneiden zurück – hier sind wir bei der anderen Funktion, die man an Ardour für meine Begriffe für den Radioeinsatz noch ergänzen müßte. Wobei ich nicht mal weiß, ob professionelle Radio-Schnittprogramme wie Digas oder Dira sie haben; aber Samplitude hat sie, und bei mir hat sie sich sehr bewährt: Wenn man (in Bandmaschinenterminologie gesprochen) einen Schnitt setzt, dann simuliert Samplitude – je nach Konfiguration automatisch – den schrägen Schnitt eines Bandmaschinen-Messers wie auf der Klebeschiene à la Studer oder Telefunken. Der je nach Winkel bei 19 cm/s. dann doch so 1/30 sek. dauern wird.
Das heißt: der Schnipsel vor dem Schnitt überlappt den folgenden (in der Samplitude-Standardeinstellung) um etwa 35 ms.

Die luxuriöse Folge ist, daß man weit seltener mit Knacksern an Schnittstellen zu kämpfen hat, als wenn man die Schnitte (auf Bandmaschinenverhältnisse übertragen) senkrecht zur Laufrichtung des Bandes setzen würde. Bei Samplitude heißt das „Auto-Crossfade-Modus“. Relevant wird dieser Vorteil z.B., wenn man Sprachaufnahmen aus nicht ganz trockenen Räumen (also von außerhalb des Studios) schneiden muß.
Diese Funktion hat Ardour leider (noch?) nicht. Deshalb habe ich das Programm bislang für die Radioarbeit noch nicht einsetzen können.
Man kann auf Ardour zwar einen automatischen Crossfade programmieren – aber dazu muß man, bildlich gesprochen, die Bandenden nach dem Schnitt übereinander schieben, damit das Programm dann sozusagen noch mal schräg hindurchschneiden kann. Da geht natürlich ein bißchen Material bei hops; und das ist das bißchen zuviel. :undnun:

Dafür hat Ardour allerdings ein Schmankerl, das ich bislang nur bei monströsen Tonstudiosystemen aus dem absoluten Profibereich (wie Magix Sequoia) gesehen habe :respekt: und das deshalb mal als Knaller am Schluß dieser Vorstellung nicht fehlen darf :drink:. Am großen Mischpult hätte man es früher vielleicht „automatisierte Regler“ genannt.

Aufgabe: Vorproduktion z. B. einer Radio-Musiksendung, bei der eine Musik weich in den Hintergrund geblendet werden soll, um dann einen bereits „trocken“ aufgenommenen Sprechertext draufzusetzen und die Musik in wohlbemessener Lautstärke als „Bett“ drunter weiterlaufen zu lassen.

Früher: Machte man das mit drei Bandmaschinen und einem großen Mischpult – eine Maschine liefert die Musik, die zweite den Text, alles am Mischpult in Echtzeit mit automatischem Reglerstart schön gefühlvoll blenden, Aufnahme auf die dritte Maschine, fertig.

Bei herkömmlichen Audioprogrammen: Legt man Musik und Text auf unterschiedliche Spuren, plaziert den Text an der passenden Position „auf die Musik“, dann legt man auf der Musikspur mehr oder weniger aufwendig eine Blende an, prüft die Pegelverhältnisse, korrigiert bei Bedarf, bis alles stimmt. Wenn man eingearbeitet ist, geht das schnell – aber wer noch das gute, alte Analog-Verfahren mit den drei Bandmaschinen gewohnt ist, der muß sich schon erst mal dran gewöhnen, mit Erfahrungswert-Einstellungen zu arbeiten, statt aus dem Bauch und nach Gehör in Echtzeit die Blenden zu ziehen

Bei Ardour: Geht es erst mal ähnlich wie bei herkömmlichen Audioprogrammen: Man legt Text und Musik auf die beiden Spuren, plaziert den Text zeitlich korrekt – soweit also alles wie gehabt. Dann aber kommt der Hammer :oah: : Das Programm auf den Automationsmodus schalten – dann den Cursor einige Sekunden vor die Stelle setzen, an der die Musik geblendet werden soll, und auf Wiedergabe drücken. Sobald man an die „Blend-Stelle“ kommt, zieht man den Pegelregler der Musik-Spur auf dem Bildschirm mit der Maus in Echtzeit nach unten – und hört das Resultat sofort über Lautsprecher/Monitorkopfhörer. Ardour bildet das Resultat dazu als Lautstärkekurve auf dem Bildschirm ab und speichert die Kurve. (Analog kann man auch Veränderungen des Stereopanoramas vornehmen.)

Für mein Empfinden ist das ausstattungsmäßig ein absoluter Kracher. :party:

Aber nicht nur deshalb ist Ardour eine echte Alternative zu teuren Systemen für Tonstudioanwendungen im Semiprofibereich – vielleicht sogar teilweise für Profis. Ich glaube, die Hersteller kommerzieller Software können froh sein, daß dieses Programm noch so unbekannt ist. Denn objektiv gibt es für mein Empfinden, was jedenfalls den Radiobereich angeht, nur noch die zwei oben genannten Gründe, nicht zu Ardour zu greifen.
Was die Anforderungen für professionelle Musikproduktionen angeht, kenne ich mich jetzt nicht aus – aber Ardour scheint auch da nicht groß hinter kommerziellen Systemen zurückzustehen. Vielleicht kann da ja noch jemand anders aus dem Forum diesen Thread ergänzen.

Jedenfalls: Heimanwender, die komfortabel gute Festplattenaufnahmen machen wollen, bekommen hier alles, was das Herz begehrt. :bier:

P.S. Das Eingewöhnen in Ubuntu war übrigens auch für mich als Anfänger mit einer durchschnittlichen Windows-XP-Erfahrung kein großer Akt. Das Geld für ein Windows 7 zu erarbeiten, hätte länger gedauert ;-). Schwellenangst vor der Kombination Ubuntu/Ardour braucht man also absolut keine zu haben.

Michael
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