Authentische Aufführungspraxis mit Original-Instrumenten
#3
Ja, hier. Ich gehöre sogar dieser Szene an, obgleich ich bekennen muss, dass das, was ich Ende der 1960er wünschte und erhoffte, nämlich mit Musik als einem Informationsträger wie die uns geläufige Sprache umzugehen, sie so zu erfahren und zu 'lesen', bitter enttäuscht wurde.

Ich gebe daher keine Empfehlungen ab (na ja, zwei Ausnahmen -weit- unten), sondern schreibe von den szenenspezifischen Schwierigkeiten, die oft so speziell geartet sind, dass ein Laie sich fragt, wieso man sich veranlasst sehen kann, darüber zu diskutieren.

Grundsätzlich müssen wir akzeptieren, dass es innerhalb jeglicher Betrachtung der menschlichen Historie die Feststellung des Richtigen schlechthin nicht geben kann, weil wir die Voraussetzungen eines Zeitalters nie mehr in seiner Gesamtheit verstehen, ja erfassen können. Nach Chopin und Reger, John Cage und den Beatles ist Bach(-Vater) nicht mehr dasselbe wie für seine Söhne oder gar seine älteren Zeitgenossen.
Wonach man im Rahmen musikalischer Interpretation stattdessen suchen kann (so es einen interessiert), ist die Angemessenheit des Umganges mit bestimmter Musik.

Und da wird es für mich als Musiker-Akustiker-Historiker insbesondere bei Persönlichkeiten in Grenzbereichen (historische Umbruchszeiten: Monteverdi und Jahrzehnte vor ihm; J. S. Bach als Musiker, Psychoakustiker und Prinzipialist) sehr interessant, weil sich solche Größen dann doch sehr gut fassbar als Menschen von Fleisch und Blut erweisen, deren Liebe zum Beruf und die daraus erwachsende Verzweiflung, Eingebundensein in eine für uns teilweise rekonstruier-, wenn auch nicht mehr erlebbare Alltäglichkeit interessanteste Rückschlüsse auf einen künstlerisch qualitativ kaum weiter zu treibenden Arbeitsprozess zulassen, der den erhaltenen Werken eigene Aussagen verpasst. Man lernt zumindest, wie dieser Mann (auch Frauen komponierten, ich weiß) musikalisch denkt/dachte, was meine Standorte heute reizvoll relativiert. Einmal abgesehen davon, dass die zeitgenössische Bedingheit dieses Denkens so gar nicht zu unserer oftmals recht dussligen Zeitlosigkeitsanforderung passen will.

Man stößt dabei auf jede Menge Details, wobei ich z. B. an Bachs Matthäus-Passion denke, die ähnlich wie die Inventionen und Sinfonien, die so mancher Klavierschüler seither 'runtergekloppt' hat, viel über seine Vorstellung von musikalischem Satz und Aufführungspraxis sagen. Dass die Matthäus-Passion vermutlich wohl nur im Coro 1mo den 16' hatte, den Coro 2do nur achtfüßig ("wozu dat dänn..?") deckte, dürfte dabei für den Normalverbraucher ohne Interesse sein, obgleich der "sich selbst informirende Musicus" (Eiselt 1736) hier eigentlich schnell weiß, dass da eine Untiefe für klanglich erfassbare Satzfehler auftut, über die ein Prinzipialist vom Schlage Bachs nach Aussage der Söhne und Zeitgenossen sofort stolperte. Da liegt also sicher schon was.
Allgemein wichtiger wäre hier der Gedanke an die zeitgenössischen Aufführungspraktiken bei St. Thomas in Leipzig, wo die konsequent doppelensemblige (zwei Solistenquartette, zwei Chöre, zwei Orchester, zwei Basso-continuo-Instrumente) Matthäus-Passion für einen zumindest relevanten Teil der Zuhörer 1727 bzw. 1729 als Vorne-Hinten-Ereignis gelaufen sein muss.
'Surround, surround!, ruft man da, und das unter für das 18. Jhdt. theologisch wie musikalisch komplexen Umständen...' Aber nicht doch:
Ich renne seit 1997 ('seither kann ich surround') der Realisierung eines solchen, von mir soweit möglich recherchierten (wir sind nämlich gerade zu Lebzeiten des Kantors Bach über die Innenausstattung von. St. Thomas, Lpzg mies unterrichtet) Projektes nach, das aber -trotz seither erfolgter, zum Teil denkbar überflüssiger Neuaufnahmen der Matthäus-Passion Bachs- weder bei Musikers, noch bei Verlegers oder Rundfunks, Produzentens oder Tonmeisters Anklang fand. Europaweit... Aha, Luft 'raus.

Frage ich hier also falsch oder besser uninteressant für selbst diese Fachkreise? Stehen profane Umstände dem entgegen? Nun das tun sie tatsächlich, aber diese Behinderungen kenne ich, aber nicht etwa jene Leute.
Vermutlich ist nicht zuletzt die Sorge um den nicht mehr beherrschbaren wirtschaftlichen Aufwand zu groß, die sich immer dann äußert, wenn unbekanntes Terrain bestellt werden soll; dennoch suche ich immer noch nach einer Realisierung. In diesem Jahre habe in der Höhle des Löwen (MDR, Leipzig) einmal eindeutige Signale gesetzt. Mal sehen, ob sich daraufhin etwas rührt.

Noch ein Sätzchen zu den Inventionen und Sinfonien Bachs: Was ist eine 'Inventio', was ist eine 'Sinfonia'/'Synphonia', ganz lateinisch oder greichisch?
Hilfe: Es gibt -nach des Kapellmeisters Bach Vorstellung- keine 'dreistimmigen Inventionen', wie meine Kavierlehrerin vor 40 Jahren + die Sinfonien immer wieder nannte. Warum eigentlich nicht? Und schon sind wir mitten im Denken und der Nomenklatur dieses längst gestorbenen Mannes drin, die bei Stunk in Leipzig (und Freiberg, im Grunde auch Berlin) auch vor drastischen Wortspielen ("Rektor = Dreckohr") nicht zurückschreckte.

All die bisher angedeuteten Sachverhalte gehen für mich in die (für mich!, andere dürfen, ja sollen das anders sehen!) Interpretation ein, die ich gemäß ihren historischen Bedingtheiten angehe, auch wenn mich das Spielraum kostet. Der Gewinn überwiegt allemal, so wie ich denn auch in der Geschichte der Tonaufnahme allenthalben auf der Suche nach der "menschlichen Dimension" derer bin, die Sachverhalte [i]wirklich[/] angeschoben haben. Wichtigtuer haben wir genug; die guckt man sich daher besser im Kino an.

Als Organist habe ich über fast 20 Jahre quer durch (West-)Europa historische Instrumente des 16. bis frühen 19. Jahrhunderts systematisch abgegrast, was einen Erfahrungsschatz bezüglich der für das 'Abendland' so typischen Verquickung von Kunst und Technik, ja der Verbindung von Technik und Alltag allgemein darstellt, der mein Leben bis heute bestimmt.

Es liegt mir fern, mich despektierlich -wie vor einiger Zeit anderweitig erfolgt- über die Interpretationsformen des letzten Frauenkirchenorganisten Dresdens (Hanns Ander-Donath +1964) oder den Berliner Domorganisten Fritz Heitmann (+1953) zu äußern, sondern ich höre deren Aufnahmen als das was sie sind: Zeugnisse, Dokumente einer vergangenen, teilweise beklemmend aktuellen Epoche der Musik- und Technikgeschichte, an der sich in der Analyse zu 'reiben', meine Erfahrung immens schärfte, die ihrerseits dann aber auch oft genug an einer indiskutablen Gegenwart verzweifelt. Ich höre, was der Kapellmeister Bach in den gespielten Stücken macht, Heitmann oder Ander-Donath auf ihren Orgeln tun, höre die Technik (Mikrofonierung, Mikrofontyp, Folien- oder Magnetbandaufnahme) diskutiere ihre Ergebnisse mit mir. Dass beide Orgeln (Eosanderkapelle, Berlin-Charlottenburg, Frauenkirche Dresden) heute durch Kriegseinwirkung 'weg' sind, aber dennoch klingen, führt in die philosophischen Kuriositäten der Medienindustrie hinein. Woran man spätestens sieht, dass hiermit etwas Wesentliches in die Menschheitsgeschichte kam.

Jene stetig wachsende Erfahrung jedoch ist aber wohl auch Voraussetzung für eine solche Form der Beschäftigung mit Musik, deren Emotinalität dann aber auch zwangsläufig an sehr, sehr individuellen Orten angesiedelt ist. Ich habe in meinem Leben daher wohl auch nur eine einzige Person genauer kennen gelernt, die da mir sehr ähnlich denkt. (Meine Frau ist es nicht und unser Sohn erst recht nicht...) Aha, also ist das alles wohl doch etwas abartig.

Eine Empfehlung, nein zwei Empfehlungen zum Schluss:
Es gibt eine wunderbare Aufnahme der Hornkonzerte W. A. Mozarts mit Hermann Baumann und dem Concentus musicus Wien, der jedem dem der Sinn für die Schönheit des Naturhornes und ein Sinn für Witz in der Musik nicht abhanden gekommen ist. Diese TELDEC-Aufnahme (0630-17429-2) von 1974 (damit ja auch noch analog...) wird den vier Hornkonzerten Mozarts in einer Weise historisch und musikalisch gerecht, die ich nie wieder gefunden habe und sich gewiss auch dem normal denkenden Mitbürger erschließt. Mozart und Leitgeb (der Widungsträger der Partitur Mozarts) wären begeistert, so fern mir eine solche Feststellung liegt. Hier bin ich mir sicher, keinen Streit mit den beiden Herren zu riskieren. (Nachher machen die mir noch mein ewiges Leben zur Hölle...)

Die zweite Empfehlung ist eine CD mit den Beethoven-Symphonien 3 & 8 der Klangveraltung München unter Ennoch von Guttenberg, die zwar traditionell besetzen, jedoch Erkenntnisse der Urtextbewegung umsetzen, womit selbst der sperrige Beethoven auch ohne jehrzehntelange Beschäftigung durchschaubar, witzig, spitzfindig, kurzweilig wird. Guttenberg profilierte sich in München zwar nicht gerade als Angehöriger der Szene alter Musik, die musikalisch immer sinnvolle, niemals willkürliche Einsetzung interpretatorischer Mittel innerhalb dieser Aufnahme jedoch faszinierte mich so, dass ich die CD (Farao B 108026) haben musste. Einer meiner sehr geschätzten Kollegen -keineswegs ein Luftikus, sondern ein Mendsch sehr, sehr abgewogener Urteile (Hamburger noch dazu)- kann damit allerdings so gar nichts anfangen....
Ach ja, soweit waren wir doch schon einmal weiter oben....

Vokalmusik hätte ich allerdings auch noch. Doch Sparsamkeit muss sein.

Hans-Joachim

Mir fällt ja -als Organist und Nichtraucher- das beste immer erst 'danach' ein:

Ich habe eine CD, die auf der heute leider nicht mehr bestehenden Kino-Orgel der ebenfalls dahingeschiedenen Organ-Grinder-Pizzeria in Portland, OR entstanden ist. Jonas Nordwall spielt darauf teilweise unnachahmlich zumindest für die Zeit der Aufnahme (1988) aktuelle Pop-Bearbeitungen, die für jeden Keyboard-Spieler nicht nur Genuss, sondern auch Erkenntnis zur Geschichte seines Instrumentes bieten sollten. Elektronik ist nicht immer mit Fortschritt gleichzusetzen; mit klanglichem schon gar nicht. Hier hört man das, und Jonas Nordwall (Organist of 1st United Methodist in Portland, Oregon) kann die Theater-Orgel spielen, includig 'traps & effects'...
Leider gibt es diese CD natürlich nicht mehr, denn sie wurde nur vor Ort in einer einzigen Auflage vertrieben. Ich aber bin stolzer Besitzer eines Exemplares. Es ist eben doch gut, wenn man an den Ort des Geschehens beste Verbindungen hat, das Ding sieht und gleich kauft... Bei mir gäbe es also notfalls eine Kopie.

Die Herkunft dieses Instrumentenkonzeptes aus Italien -jetzt rieseln die Empfehlungen im post scriptum- dokumentiert eine ebenfalls der analogen Zeit entstammende CD (Aufnahme 1972) der Reihe 'Musique d'abord' der Harmonia mundi France (Nr. 190947): L'Orgue de Tende (Carlo und Giuseppe Serassi, Bergamo 1807). Musiques théâtrales et militaires. René Saorgin, Orgue (heute em. Prof. in Nizza).

Der Titel ist etwas irreführend, denn die Musik stammt fast ausschließlich aus geistlicher (!) Feder und wurde eindeutig für 'kultische' Zwecke geschrieben, nimmt aber erhebliche Anleihen bei der zeitgenössischen Opern- und Militärmusik, womit die Bewohner Piemonts in den 1830ern bis 1860ern wohl tendenziell eher wenig Probleme hatten, ebenso wie die Orgelbauerfamilie Serassi aus Bergamo, deren Instrumentenkonzept im 19. Jhdt. es in Italien zu einiger Klassizität brachte. Tut zum schreien, ist aber Alte Musik....
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