Bandmaterial für cremigen, fotorealistischen 70ies Klang
#45
Finn,

Herrjeh, die Grundsatzdiskussion wollte ich doch vermeiden... also ganz vorsichtig:

Ich gehe bei vielem mit: Unverfälschte Wiedergabe ist - platt gesagt - ein Engineering-Ziel, und die kreative Verwendung von Effekten ein künstlerisches. Das Spiel mit Unzulänglichkeiten des Aufnahmevorgangs kann sehr reizvoll sein. Alles gut, alles richtig. Ich bin auch Musiker (Organist, Chorleiter, hab auch mal Streich- und Blasinstrumente gespielt) und kenne das aus eigener Erfahrung.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Ich glaube, man neigt dazu zu hören, was man zu hören erwartet

Das ist der Knackpunkt. Ja, die Wahrnehmung im Allgemeinen ist sehr von unserer Erwartung bestimmt. Die Liste kognitiver Verzerrungen auf Wikipedia ist eindrucksvoll. Diese Effekte haben uns evolutionär beim Überleben geholfen, weil sie nützliche Abkürzungen im Denkprozess sind. "Thinking, Fast and Slow" von Kahnemann. Sie zeigen aber auch, dass unsere Intuition weit davon entfernt ist, automatisch unverzerrte Statistik zu betreiben, oder auch nur den gleichen Sinneseindruck konsistent gleich zu bewerten.

Die Hörerwartung beeinflusst das Ergebnis drastisch. Deswegen ist alles, was man nicht im statistisch sauberen Blindtest untersucht hat, nicht belastbar. Deswegen klingen Kabel, und Transformatoren, und so weiter.

Ich bin selbst schon oft drauf reingefallen: Einmal, auf einer Orgelfahrt, haben wir nach einer Registrierung für irgendeinen Mendelssohn gesucht. Das Cello 8' im Pedal war irgendwie nicht schön, hat alles zusammengesägt, also wieder raus. Aber im Positiv gab es eine Gamba 8', die wir ins Pedal gekoppelt haben. Viel schöner, endlich passt es, alle waren sich einig. Tja. Auf der Heimfahrt haben wir in der Festschrift die Disposition mit Anmerkungen gelesen - das Cello im Pedal ist eine Transmission - es klingen also genau die gleichen Pfeifen. Wollten wir aber nicht hören.

Weil man also auf den unbewaffneten Sinneseindruck keine verlässlichen Untersuchungen stützen kann, muss man objektivieren. Reproduzierbar machen. Messen.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: (bzw. wozu das Gehör in der Lage ist).

Das Ohr ist dabei ein lausiges Messgerät (und nicht umgekehrt!) - nicht nur wegen der Interpretation des gehörten, sondern auch seine rohen Messdaten (Frequenzabhängigkeit der Empfindlichkeit). Diese Limitierungen muss ich kennen und lernen, damit umzugehen. Die mitlaufende FFT am Bildschirm, wenn ich einen Klang hören und beschreiben will (bspw. eines Instruments), hilft z.B. zu hören und dann zu benennen, was ich vorher nicht wahrgenommen hätte.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Auch wenn das jetzt möglicherweise einen Sturm der Entrüstung auslösen wird: Messergebnisse sind für mich Hinweise, aber nicht mehr.

Meine Gegenthese: Alles, was ich höre, kann ich messen - aber nicht alles hören, was ich messen kann.

Nun, weniger provokativ: Es kommt drauf an, welche Frage Du entscheiden willst. Eine Messung wird nicht beantworten, was Dir besser gefällt, oder ins künstlerische Konzept passt, und so weiter. Fragen wie "was ist der Unterschied zwischen Signal A und Signal B", oder "wo setzt bei meinem Band die Verzerrung ein", oder "wie stark sind die Höhen hier betont" lassen sich aber viel sicherer und zuverlässiger mit einem Messgerät klären - und nicht alleine mit den Ohren. Man kann immernoch lernen, für die Effekte sensibler zu werden (so verstehe ich Deinen Begriff "analytisches Gehör") - aber wird nicht die Zuverlässigkeit der Messung erreichen.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Für meine Ohren hat jede Elektronik, sogar passive Bauteile wie z.B. Widerstände, eigene klangliche Merkmale.

Ich behaupte, dass Dir wahrscheinlich Deine Hörerwartung einen Streich spielt.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Dass ich damit nicht ganz allein stehe, weiß ich.

Das bestreite ich auch nicht - damit wird schließlich auch viel Geld verdient!

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Musik an und für sich ist ja nicht bloße Technik. Dieses "etwas" der Musik lässt sich ja rational/wissenschaftlich nicht fassen und entsprechend nicht messen oder beweisen. Will man das mit Technik reproduzieren, kommt man nicht darum herum sich auch auf das Terrain dieses "etwas" zu begeben. Man muss also ein Mindset pflegen, das nicht mehr rein technisch sein darf. Und genau das führt dann gelegentlich dazu, dass andere glauben, man dichte den Ergebnissen Mystisches, Mondphasen o.ä. an.

Auch da bin ich im Grunde dabei - Musik besteht (wieder stark vereinfacht) aus einem technischen und einem künstlerischen Anteil. Wenn ich alle Tasten zur richtigen Zeit drücke, habe ich noch keine Musik gemacht. Ob etwas ästhetischen Wert hat oder nicht, ist letztlich nicht vollständig objektivierbar.

Ein Ausspielen von Analytik und Ästhetik gegeneinander ist aus meiner Sicht auch nicht zielführend. Die Welt wird nur schöner, wenn man mehr von ihr versteht. Den Link zu Richard Feynman in dieser Sache hatte ich kürzlich in einem anderen Thread zum ähnlichen Thema geteilt: Messen und Hören, hier aber gerne nochmal:



(Nebendiskussion: Man kann aber trotzdem verstehen, wie im Detail der ästhetische Eindruck im Kopf entsteht. Man kann untersuchen, wie Maler gemalt, Schriftsteller geschrieben und Komponisten komponiert haben, das einer Maschine zum Lernen geben, und die kann dann den "Stil" verblüffend realistisch - bald auch ununterscheidbar - nachahmen. Das bedeutet, man kann schon "verstehen", wie der scheinbar der Analyse entzogene, künstlerische Teil im Inneren funktioniert. Am Ende ist das alles Biophysik und ein kompliziertes neuronales Netz im Kopf. Diese Diskussion versetzt aber Musiker und Künstler in Angst und Schrecken, weil den herzlosen Wissenschaftlern nichtmal das Menschliche an sich heilig genug ist, um es dem analytischen Zugriff zu entziehen. Darum soll es hier aber nicht gehen.)

Zurück zum Thema:

Mir geht es darum, wo Du beim Experiment mit den Bändern und ihren Verzerrungen die Grenze zwischen Handwerk und Kunst zu ziehen scheinst. Das war mein letzter Post oben: Es sind nicht "verschiedene Bänder, die verschieden warm klingen", sondern immer das Zusammenwirken von Band und Maschine unter einer bestimmten Einmessung. Das ist nichts mystisches, sondern Brot und Butter der Magnetbandtechnik, seit mehr als 50 Jahren erschöpfend verstanden und vielfach nachzulesen.

An der Stelle will ich Dich ermutigen, das kollektive Wissen der Altvorderen zu nutzen, Dich einmal richtig reinzudenken, und systematisch Deinen gesuchten Wohlklang zu finden. Das ist nachhaltiger und macht glücklicher (naja, meine ich zumindest), als sich durch zufälliges Kombinieren und Anhören von Bändern immer tiefer in den Wald zu begeben und sich dort zu verirren. In diese Richtung würde ich auch gerne den Rest der Diskussion in diesem Thread weiter lenken.

Mein Angebot mit dem Beispiel-Track steht. Ich probiere gerne aus, was über Band zu erreichen ist. Vielleicht machen andere hier auch mit. Wenn dann dabei ist, was Du suchst, bekommst Du hier sicher geholfen, wie Du mit Deinem Gerät und Band auch dahin kommst.

(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Ich hoffe das geht okay so.

Aber natürlich - es ist ja ein Austausch zur Erweiterung des gegenseitigen Verständnisses, und nicht ein reines Postulieren von Glaubenssätzen Wink

Viele Grüße
Andreas


(13.10.2022, 07:57)SevenTeaLights schrieb: Frage an einen Admin (Andreas42 vielleicht?): Kann mein Account für den Downloadbereich freigeschaltet werden? Denn die von Kai erwähnten Dokumente würden mich tatsächlich sehr interessieren.

Für den Downloadbereich musst Du Dich dort nochmal anmelden - die Accounts sind nicht synchronisiert.


Nachrichten in diesem Thema
RE: Bandmaterial für cremigen, fotorealistischen 70ies Klang - von andreas42 - 13.10.2022, 10:54
RE: Abstreiter - von user-332 - 13.10.2022, 14:34
Zeitstehler unterwegs - von user-332 - 03.11.2022, 13:21
Schimmerlos - von user-332 - 03.11.2022, 13:38

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