Authentische Aufführungspraxis mit Original-Instrumenten
#12
Soll ich doch einspringen?

Ich habe als Musiker Kurse bei Harnoncourt (und diversen anderen Leuten zwischen Radulescu und Tagliavini) besucht, Harnoncourts Aufstieg bis zur teilweise zwangsweisen Zurruhesetzung mitverfolgt und halte von seinem Individualismus, seinem Bedürfnis überau viel, nicht blind unverstandenen oder unreflektierten Traditionen/Konventionen zu folgen, sondern als Musiker einer Analyse des musikalsichen Satzes zu dienen. Er hat immenses angestoßen, auch aufnahmetechnich, was nicht zuletzt aber auch seinem Aufnahmestab und seiner Sensiblilität für die Sache zuzuschreiben ist. Es waren dies der von der Grammophon kommende Wolf Erichson, Dieter Thomsen und eine Technikerin, deren Namen ich leider vergessen habe. Um die 12. Folge des Bach-Kantatenwerkes geriet man mit dem Telefunkenmanagment in Streit und verließ den Laden, was auch die technische bzw. Produzententrias auseinanderbrachte. Wolf Erichson gründete Seon-Klangfilm und arbeitete für RCA, BASF, SONY, rollte -auch durch seine rapide wachsende Literaturkenntnis (er ist eigentlich Orgelbauer, wie er mir selbst einmal erzählte)- den Bereich alter Musik enorm auf. Der Reiz früher Aufnahmen Thomsens und Erichsons besticht vor allem durch die geschickte -also auf Aufnahmegegenstand (Musik und Instrumentarium)- angemessen abgestimmte Auswahl des durchwegs historischen Aufnahmeraumes und durch Techniken, die bereits auf kommende Tage hinwiesen, obgleich noch keine der im digitalen Zeitalter schnell übelich werdenden Hilfsmittel zur Verfügung standen. Man erkennt z. B. in der frühen Johannes-Passion Bachs Klein-A-B-Techniken, deren Probleme für die LP Dieter Thomsen nun allemal nicht fremd waren. Man bediente sich möglichst einfacher Mikrofonierungen, weil -ohne Hilfsmittel- jedes Mikrofon mehr einen potenziellen Problemfaktor mehr vorstellen kann. Nachdem das Instrumental- und Vokalensemble immer (Gegenbeispiel: Norrington!) ausgeglichen besetzt war, man sich mit Musik befasste, die von einem überaus 'kompetenten Psychoakustiker' (Bach) komponiert worden war bzw. einer Zeit entstammte, in der beides vom (komponierenden) Kapellmeister -also beispielsweise Bachs- erwartet wurde und werden konnte, funktionierte das auch. Lieber setzte man einen Musiker auf ein Podest, als dass man ein Mikrofon hinzustellte (das aber sagte mir Thomas Gallia von Sonart, Mailand).

Harnoncourt stellt zunächst ganz auf sein oben genanntes Anliegen ab, war aber alles andere als ein Musikwissenchaftler, dafür war an seinen Sichten zu vieles schief. Gustav Leonhardt, den Erichson ja auch ins Boot des Bach-Kantatnewerkes beio Telefunken bzw. TELDEC geholt hatte, ging da sehr viel konsequenter zu Werk, er hielt sich aus Entscheidungen heraus, die ihm musikwissenschaftlich fragwürdig schienen, was man an seinen immer ausgefeilten, aber über Jahrzehnte sehr ähnlichen Interpretationen hört. Er kennt kein mit dem Kopf durch die Wand; Niki durchaus, was auch familiär bei ihm nicht immer einfach war.
Beide so unterschiedliche Persönlichkeiten -Hanroncourt und Leonhardt- aber trugen eminent zur regelrecht musikgeschichtlichen Bedeutung dieses sich über fast 20 Jahre erstreckenden Aufnahmeprojektes Erichsons bei, die trotz aller zum Teil grotesken Fehlerhaftigkeit im Zuge von 200 Kantaten vorliegt. Von der Röhre in die Digitalzeit.
So hörten weder Haroncourt noch seine Musiker, dass er ein Hörnerensemble eine Oktav zu tief spielen ließ, was dem Satz zu entnehmen wäre; nicht zuletzt bei der Analyse des klingenden Ergebnisses. Nichtsdestoweniger: Dies genau ist ja das Verdienst jener Szene und damit des "Niki", das Augenmerk (übrigens beim Konzertgeher und Konsumenten völlig vergeblich) auf solcherart Fragen gelenkt zu haben. Nur durch solche Beschäftigungen war es ja möglich, die Musik mit der Schlüssigkeit ablaufen zu lassen, unter der sie einmal konzipiert war.

Harnoncourt ist ein stark gesanglich (!) denkender, traditioneller Musiker, dem Wohlklang mit zunehmendem Alter über alles ging, weshalb wir ihn ja jetzt auch bei Bruckner finden, dessen konstruktiver Musikansatz, na ja, öh, oh, äh, geringfügig hinter Bach zurücktritt, also für die klassische Satzanalyse ---,--- weniger ergiebig ist. Und so näherte sich Harnoncourt auch (z. B. mit seiner letzten Matthäuspassion Bachs, Arnold-Schönberg-Chor in der Wiener Jesuitenkirche) deutlich den Sichten Karajans (das Verhältnis beider ist Kapitel für sich und sehr alt!), vor allem aber Richters auf dieses Werk. Die ursprünglich -von Bach- natürlich intendierten Symmetrien im Vokal- und Instrumentalapparat gehen über den Harz (nicht den des gleichnamigen Peter, sondern den des W. Kempowski) und müssen dann aufnahmetechnisch hingebogen werden; musikhistorische Einsichten zur Matthäuspassion weichen einem pastosen, dramtatisch eindrucksvollen Klang, der aber allein auf an sich abgelegte Traditionen zurückgewandt nichts zur Sicht auf dieses Opus beiträgt (auch in der surroundlichen Hinsicht, die Harnoncourt mit seiner ersten Matthäus-Passion schon einmal angestoßen hatte). Diese (in meinen Ohren überflüssige) Aufnahme beschreibt Harnoncourts Wandlung, nicht die eines Werkes.

Dass die Szene alter Musik heute in denselben handwerklichen Fahrwassern segelt wie die von ihr einst so heftig angegriffene philharmonische, entspricht einer Prophezeihung von Harnoncourt selbst, der diese etwa 1968 in einer mir erinnerlichen Fernsehsendung Wolf Eberhard von Lewinskis geäußert hat. Nur meinte er das damals anders: Er dachte an den Erkennisgewinn, die Notwendigkeit "anderer" Ensembles für "die alte Musik" im Glauben an eine beständige Fortentwicklung; ich beobachte heute lediglich zwei Schienen nebeneinander, die miteinander auch /und zwangsläufig) interagieren, aber jeweils auf einem fixen und fix (muho-mäßig) tradierten Repertoire (nebst ebenfalls tradierten Fundus an Interpretationsmitteln) sitzen.

Ich dachte als Schüler Ende der 1960er Jahre: "So jetzt geht es los; man kann dem Hörer die Augen (und Ohren) öffnen, Grundlagen offenlegen, zeigen, wo der Bach und der Schubert herkommen, was bei Beethoven Verbissenheit und bei Bach simpel ist, welchen Einfluss Musikinstrumente und Traditionen (in der Kirchenmusik z. B.) auf die Kompositionesprozesse einzelner Musiker nehmen" usw. usf.
Pustekuchen, nix war und nix ist. Eine der ganz großen Enttäuschungen meines Lebens. (Es gab derer mehrere; andere...).

Tja, so'st.

Hans-Joachim
Zitieren


Nachrichten in diesem Thema
[Kein Betreff] - von Michael Franz - 21.11.2004, 12:23
[Kein Betreff] - von Frank - 21.11.2004, 14:51
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 21.11.2004, 15:55
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 12.07.2005, 00:23
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 12.07.2005, 12:05
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 12.07.2005, 12:20
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 12.07.2005, 13:17
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 12.07.2005, 22:53
[Kein Betreff] - von RS1500 - 13.07.2005, 17:10
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 13.07.2005, 17:17
[Kein Betreff] - von RS1500 - 14.07.2005, 10:26
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 14.07.2005, 12:54
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 14.07.2005, 13:16
[Kein Betreff] - von Michael Franz - 14.07.2005, 14:02
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 14.07.2005, 16:59
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 14.07.2005, 17:13
[Kein Betreff] - von PhonoMax - 14.07.2005, 17:53
[Kein Betreff] - von Markus Berzborn - 14.07.2005, 19:08

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste