Das Bandgerät Liebhaberei vs. Nutzen
#6
Moin, moin,

schwierig.
In früheren Zeiten sind Aufnahmen oft von Profis gemacht worden, war die Idee gewesen, einen gewissen qualitativen Standard zu erreichen und zu halten. Das ist den Leuten schon in der Ausbildung beigebracht worden.
Heute kann jeder selber mixen und aufnehmen; nur hat „jeder“ es nicht unbedingt gelernt. Verbreitungsfeld dieser „jeder“ ist in der Regel nicht die Schallplatte, sondern das digitale Format. Und so nehmen wir es wahr.

Hinzu kommt, dass sich ein Wettbewerb etabliert hat, der nicht unbedingt mit „Musik“ und „optimaler Wiedergabe“ zu tun hat.
Es ist zweifellos nicht so, dass in früheren Zeiten Aufnahmen, insbesondere Gebrauchsmusik-Aufnahmen nur für die gemacht worden sind, die das Ergebnis qualitativ zu schätzen wussten. Im Gegenteil: Gedudel hat es auf der Abspiel-Seite schon immer gegeben, und zwar mit einem großen Anteil am Markt.
Trotzdem hat sich da etwas verändert. Während man früher einen Mindeststandard bei der Aufnahme zu erfüllen gesucht hatte, weil die „Hersteller“ es halt so gelernt hatten, wird heute – zumindest bei der Populär-Musik – eher auf die Zielgruppen- bzw. Abspielsituation hin gemastert: Musik im Auto, Musik beim Joggen usw. Es wird „laut“ und mit geringer Dynamik gemischt. Das geht so weit, dass die Plattenfirmen kürzlich angekündigt haben, die Dynamik-Kompression bei der Aufnahme („Loudness-Race“) wieder zurück zu nehmen, weil die Ergebnisse einfach nicht mehr anhörbar wären: zudem ermüdet die geringe Dynamik den Hörer, der in der Folge möglicherweise weniger konsumiert.
Auch die europäischen Sender haben inzwischen das Rennen beendet: EBU-R-128. Was nicht heißen soll, der Standard sei optimal.

Eine Beschränkung der Kompression bei der Herstellung eines Masters hat natürlich keinen Einfluss auf die nachträgliche Kompression und Filterung auf Sender-Seite, auf Medium-Seite (Herstellung der Platte, Dateiformat) oder auf Verstärker-Seite (DRC, Night Mode usw.).

Ein Zwischenverwerter hat die Möglichkeit, nachträglich an dem ihm für die Produktion oder die Sendung gelieferten Master herum zu schrauben: vor einigen Jahren hat der NDR eine Live-Aufnahme aus dem eigenen Studio bei der Sendung verhunzt: die beiden Sendungs-Stunden waren gleichzeitig gespielt worden. Ich rief dort an und erfuhr, der zuständige Redakteuer sei schon nicht mehr im Büro, man lasse das jetzt so laufen und würde die Sendung wiederholen. Als ich dann am folgenden Tag mit dem Redakteuer sprach sagte der mir, die Stimme des Sängers sei ja auch nicht mehr so, wie vor Jahren. Er würde die Sendung nicht nur kürzen, sondern auch „anhübschen“, ein paar Filter und eben die Kompression drüber laufen lassen. Was kann das Datei-Format dafür?

Anhand bekannter Aufnahmen kann man feststellen, dass sich Erstauflagen von Platten von Wiederauflagen in Sachen Kompression usw. unterscheiden, an den jeweiligen „Zeitgeist“ angepasst worden sind. Dazu kommen die offiziell „remasterten“ Produktionen: „verbessert“ oder nur „entknackst“ und nebenbei weich gespühlt?
Per File kommen heute oft die neuen Mixes auf den Markt.

Man kann dem Medium nur bedingt einen Vorwurf machen, wenn Musik nicht klingt. Was lieblos hergestellt worden ist, sieht nur in Dunkelheit akzeptabel aus.
Hinzu kommt, dass manch „Format“ konzeptionell eher nicht geeignet ist, beispielsweise eine laute Aufnahme zu transportieren: MP3 zum Beispiel. Das hört man dann. Hinzu kommt, das eben vor allem digitale Veröffentlichungsformen eher der Kompressionssucht ihrer Verbreiter anheim fallen.
Das führt in der Summe dazu, das die verbreitetste Verbreitungsform langsam aber sicher mit der uninspiriertesten Klang-Qualität assoziiert wird. Leider, weil sie so gemacht wurde. Wie wäre das wohl, würde man heute industriell vorbespielte Bänder kaufen können?

Und nicht vergessen: Auch bei der Schallplatte hatte es Nach-Veröffentlichungen gegeben, die nicht mehr dem ursprünglichen Standard entsprochen hatten. Kann das Medium etwas dafür? So haben die Amerikaner schon in den ausgehenden Vierziger Jahren neidisch zu den Briten geschaut, weil die Herstellungswerkzeuge für Schallplatten in den USA weit länger verwendet worden waren, als in Europa: das hatte dazu geführt, dass z.B. die amerikanische Audio in dieser Zeit eine regelmäßige Kolumne über Plattenproduktionen der Briten eingeführt hatte.

Das Digital-Bashing finde ich auch deshalb nicht angemessen, weil wir dabei außer Acht lassen, dass Aufnahme-Verfahren schon etwas länger digital sind, man auf deren Grundlage schon früher beispielsweise Schallplatten gepresst hat. Zumindest habe ich die eine oder andere Scheibe, die das „digital“-Signet zeigt. Darunter auch respektable Produktionen. Die Frage ist halt, „wie geht man damit um“?

Insofern stellt sich mir die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des einen oder anderen nicht. Digitale Formate an sich haben Ihre Berechtigung.

Mir gefällt allerdings ihre Haptik nicht.
Mein heimischer digitaler Ablagekasten ist nämlich ein großer Gleichmacher. Vermeintlich wertige Aufnahmen sind dort für mich nur in der Erinnerung bzw. Imagination „wertig“, oder halt unmittelbar beim Anhören. In der Lagerung unterscheiden Sie sich in Nichts von dem Bild einer beim Pupsen grinsenden Katze, das mir ein Bekannter aus irgendwelchen Gründen gemailt hat und das mir aus der Mail zu löschen bislang zu aufwendig gewesen ist. Wie viel anderer Unsinn in diesem Kasten, der stetig anschwillt, auch: beide, der Kasten und der Unsinn.
Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe von Menschen, für die Musik (oder deren Wiedergabeanlagen) lediglich eine untergeordnete Bedeutung hat. Für die hat sie bestenfalls zum Zeitpunkt der Abspielung einen Wert. Denen ist es eher egal, ob sie aus dem Radio oder von der Festplatte kommt. Die haben dann auch keinen „Besitzerstolz“ und auch eher keine Zeit, sich mit der Frage nach dem richtigen Medium auseinander zu setzen. Die sammeln Briefmarken, Urlaubsreisen, was auch immer.

Schallplatten, Cassetten, Tonbänder, CDs usw. haben darüber hinaus noch einen weiteren, erlernten Wert. Denn sie sind vorhanden, greifbar. Musik an sich ist das nicht! Sind digitale Dateien, die auf einem Computer, auch real?
Ich mache mir keine Sorgen, dass ein Magnetband versehentlich gelöscht werden, dass eine Platte oder CD verkratzen könnte. Ich bilde mir ein, ich kann das vernünftig behandeln, fasse CDs beispielsweise nicht auf der Datenseite an. Friedrich Engel‘s Zeitschichten-Datei habe ich hingegen gleich mehrfach kopiert abgelegt, damit sie nicht verloren geht … Ist wirklich real, was ich nicht anfassen kann? Neandertaler!

Und dann gibt es da (oder nicht?) die Psycho-Akustik. Spätestens seit den vierziger Jahren wird diskutiert, welche Nebeneffekte die Machart einer Aufnahme auf uns hat, was sie auslöst. Stress? Assoziationen?
Gleichmäßige „Lautheit“ löst Stress aus. Das scheint zumindest Stand der wissenschaftlichen Forschung. Auch bestimmte Verzerrungen, fehlende Frequenzbereiche usw. scheinen etwas mit uns zu machen. Und was ist mit Musik, die aus einem akustischen Nirwana kommt?
Räume rauschen. Mehr oder weniger. Vielleicht ist es die Summe von Nebengeräuschen, von Vielfach-Reflexionen, die dafür sorgt, dass ein Raum die Anmutung eines stetigen Klanges hat bzw. von uns mit einem solchen wahrgenommen wird. Was aber ist mit der digitalen Aufzeichnung, wenn sie auch noch direkt am Instrument abgenommen worden ist, den Raum ausgeschlossen hat? Was ist mit Computer-generierten Tönen? Momentan höre ich von draußen Straße und Autobahn: ein Klangteppich. Der hat mit Musik auch nichts zu tun, selbst dann nicht, würde ich sie jetzt abspielen. Er ist trotzdem da: normal. Das Nirwana auf der digitalen Aufzeichnung? Auch „normal“?
Ein Tonband, eine Cassette und auch eine Platte erzeugen ein Eigen-Geräusch bei ihrer Abspielung. Das hat eine eigene Entität und das sorgt dafür, das bestimmte Signale „verrauschen“. Das mag mit der Musik, die das Medium speichert, nichts zu tun haben. Eine CD und auch ein Soundfile sollten kein Eigengeräusch erzeugen. Fehlt es uns?
Der harte Anriss einer Gitarrenseite, der Schlag auf ein Becken erzeugen nicht nur das Schwingen des Klangkörpers, sondern auch Reaktionen im Raum. Die könnte ein Mikrofon aufnehmen. Wird es aufgenommen? Der Abhörraum könnte solche Reflexionen auch erzeugen? Und wenn man Kopfhörer trägt? Ein Tonband erzeugt nicht selten eine Rauschfahne. Eine Sounddatei eher nicht.

In der Familie habe ich jemanden, der ist „rot-grün-blind“. Wie er die Welt sieht, kann ich mir nicht vorstellen. Dass er sie so sieht, wie ich es täte, würde ich die Farben einfach nur ausfiltern, kann ich mir nicht vorstellen.
Tatsächlich habe ich keine Ahnung, hat niemand eine Ahnung, wie irgendjemand anders in dieser Welt etwas wahrnimmt. Erkenntnis-Theorie. Erstes Semester. Einführungsveranstaltung.

Wahrnehmung ist eine Summe von weitergeleiteten Reizen, Reaktionen des eigenen Körpers darauf, Reaktionen anderer darauf, sowie eigener Assoziationen und Erinnerungen. Das meint: wir hören nicht nur mit den Ohren. Wie groß der Anteil des Mediums der Musikspeicherung am Hör-Erlebnis ist, mag ich nicht sagen.
Allerdings habe ich mal einen „Boxentest“ gemacht, mich nach mehreren Stunden mit mir auf die „beste“ Box (zwei!) geeinigt, bin dann kurz aus dem Raum gegangen, und habe mir hinterher die Frage gestellt, warum ich ausgerechnet diese eine Box (immer noch ein Paar) für „ausreichend“ befunden hatte. Hatte sie wirklich ihren Klang verändert?
Mir wurde einmal von einem Blind-Test berichtet, den ein Boxen-Hersteller mit dem Schreiberling eines Audio-Magazins gemacht hatte. Der hatte, ohne „blind“, Boxen bewertet, sie beschrieben. Dann wurde der Blind-Test gemacht und er hatte, mit gleicher Wucht der schreiberischen Überzeugung, plötzlich einen anderen Boxen-Favoriten vertreten. Hatten die Boxen wirklich ihren Klang verändert?
Kaum ein Mensch ist übrigens tatsächlich in der Lage, sich rein an einen Klang zu erinnern. Psychologie. Etwas später im Semester.

Nochmal ein Boxentest. Aus einem Test für ein paar Schätzchen, an denen ich zur Zeit schraube, las ich einmal heraus, der Tester hatte sich erst an die Abbildung der Boxen gewöhnen müssen, bevor er in der Lag gewesen wäre, die Authentizität der Wiedergabe dieser Geräte einzuschätzen.
Mal ehrlich: hat sich von uns schon einmal einer an den Raum gewöhnen müssen, in dem Musik gemacht wurde, an das Instrument gewöhnen müssen, mit dem Musik live gemacht wurde, nur um herauszufinden, ob es klingt, wie ein Instrument, mit dem Musik gemacht wird?
Hingegen habe ich die Möglichkeit, mich an eine Interpretation zu gewöhnen. Dann werden die Boxen, der Verstärker, das Medium, der Ton-Ingenieur wohl eine Interpretation machen ...

Tschüß, Matthias

Siehe auch:
http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/02/Loudness-War
https://www.soundandrecording.de/tutoria...di-ortner/
Stapelbüttel von einem ganzen Haufen Quatsch
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