Schwer war die Last, keine Pagode spendete Schatten
#1
„Ist es noch weit?“ fragte Gustav, der das schwere Tonbandgerät schleppte. „Nein, nein“ antwortete ich, „den größten Teil der Strecke haben wir schon hinter uns. Sieh doch nur!“

Ich deutete an den Horizont, wo bereits der Kirchturm der Stadt zu sehen war. Gustav ächzte dankbar.

Am Rande der Straße lag ein kleines Wirtshaus, in das wir einkehrten. Ich bestellte Bohnen mit Speck, und Gustav schloss sich an. Bohnen mit Speck – ausgerechnet Gustav, der sonst eher ein Freund der leichten und modernen Kost war! Erwartungsgemäß aß er dann mit mäßigem Appetit. Das kam mir entgegen, den ich hatte Hunger und vertilgte nach meinem Teller auch noch dankbar seine Reste. Während wir aßen, bestaunte der Wirt das neben dem Tisch abgestellte Tonbandgerät.

Nach dem Essen gingen wir sofort weiter, denn wir hatten keine Zeit zu verlieren. Ein Krokodil am Wegesrand kaute auf einem Luftballon. Ich fragte mich, ob dieser Luftballon wohl einem Kind gehört habe, und wenn ja, wo dieses jetzt sei.

Gustav stöhnte unter seiner Last. „Kannst Du das Gerät nicht für ein paar Kilometer tragen?“ fragte er unter sichtlicher Anstrengung. „Nein“ entgegnete ich, „denk' an unsere Abmachung.“

Obwohl bereits die Abenddämmerung hereingebrochen war, war die Sommerhitze kaum zu ertragen. Ich beneidete Gustav wirklich nicht.
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#2
Es war nicht zu übersehen, dass Gustav die Kräfte ausgingen. Noch immer trug er, in Schlangenlinien laufend, das schwere Tonbandgerät auf seinem Rücken und grunzte vor Anstrengung, während ihm der laue Herbstwind von Zeit zu Zeit Blätter in das Gesicht wehte. Seine Pupillen waren verschwunden.

Ob es ihm wohl aufgefallen war, dass ich einen kleinen Umweg genommen hatte?

Die Landschaft war in satten Farben getüncht und sah überwältigend aus. Auf dem Fluss hinter den goldgelben Feldern schipperte ein Dampfer mit fröhlichen Ausflüglern. Die Sonne gab sich beste Mühe, obgleich die Zeit ihrer größten Auftritte bereits vorbei war, eitel schaute sie auf ihr Spiegelbild im Fluss herab. Die Luft war noch einmal von herrlichem Duft, Ballons und Feuerwerksraketen erfüllt. Ich hatte es nicht eilig, zurück in die Stadt zu kommen, die zu allen Jahreszeiten gleich aussah.

Als wir an einer Bank vorbei kamen, signalisierte ich Gustav, dass wir eine Rast einlegen sollten. Nicht aus Mitleid mit ihm, sondern weil ich befürchtete, dass er kollabieren und er das wertvolle Tonbandgerät fallen lassen könnte.

Mit letzter Kraft stellte Gustav seine schwere Last neben der Bank ab und ließ sich dann auf diese herabplumpsen. Er keuchte. Es dauerte mehrere Minuten, bis er einige Worte über die Lippen brachte. "Bist Du sicher..." setzte er an, stockte dann jedoch keuchend erneut.

Gustavs Pupillen kehrten langsam wieder. "Bist Du sicher, dass der Weg richtig ist?" fragte er schließlich unter sichtlicher Anstrengung.

"Ganz sicher!" sagte ich mit beruhigender Stimme.

Ich konnte mich an der Landschaft nicht satt sehen. Aber musste Gustav so keuchen? Das Geräusch machte mich wahnsinnig.

"Wollen wir weitergehen, oder möchtest Du Dich noch etwas ausruhen?" frage ich schließlich. "Weitergehen!" keuchte Gustav. "Wir müssen in die Stadt. Je eher, um so besser!" Er sprang auf und ergriff mit vorgetäuschtem Elan das Tonbandgerät.

Wir setzten unseren Weg fort, und die Herbstsonne lachte Gustav aus.
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#3
Ich freue mich auf die Fortsetzung, armer Gustav, er muß leiden...

Andreas, DL2JAS
Was bedeutet DL2JAS? Amateurfunk, www.dl2jas.com
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#4
Die beiden Sanitäter redeten auf mich ein. „Ihr Freund ist völlig außer Kräften. Wenn Sie nicht riskieren wollen, dass er ernsthafte gesundheitliche Schäden davonträgt, müssen wir ihn für eine Untersuchung mit in das Hospital nehmen!“

„Hören Sie“ warf ich ein, „Gustav ist nicht mein Freund. Er ist mein Vetter. Wir kennen uns seit Kindesbeinen. Er versucht von jeher, seine Mitmenschen durch das Simulieren körperlicher Gebrechen gefügig zu machen. Es geht ihm...“

Gustav, der seit geraumer Zeit leblos im Schnee gelegen hatte, hob plötzlich seinen Kopf und schnaufte, brachte aber zu meinem ausgesprochenen Glück kein Wort über die Lippen. Schließlich verstummte das Schnaufen wieder, sein Kopf sank schwer in den Schnee zurück.

„... es geht ihm ausgezeichnet, da bin ich mir sicher. Geben Sie mir ein paar Traubenzuckertabletten und einen Becher Rum gegen die Kälte für Gustav, mehr ist nicht nötig.“

Die Sanitäter sahen sich schulterzuckend an. „Nehmen Sie ihrem Vetter aber zumindest dieses schwere Radio ab!“ sagte einer, während der andere mit einem Röllchen Traubenzucker und einem köstlich duftenden Becher mit heißem Rum vom Krankenwagen zurückkehrte.

„Tonbandgerät!“ entgegnete ich mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. „Ja, selbstverständlich werde ich es jetzt tragen. Vielen Dank für ihre Hilfe!“

Die Lichter des Krankenwagens verschwanden am Horizont. Während ich auf der Bank genussvoll Rum und Traubenzucker einnahm und das herrliche Weiß der verschneiten Berglandschaft bewunderte, begann der im Schnee liegende Gustav wieder zu schnaufen und zu grunzen.

„Auf, auf, Gustav!“ rief ich ihm zu. „Hast Du gehört, was die Sanitäter gesagt haben? Es fehlt Dir an Bewegung! Das Tonbandgerät geschultert, und weiter geht's! Die Stadt ruft!“

Tatsächlich erhob sich Gustav und ergriff immer noch grunzend das Tonbandgerät. Wie entmenscht er wirkte!

Wenig später stapften wir wieder durch den Schnee. An Gustavs Nase bildete sich ein Eiszapfen.
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