Die Premiere der magnetischen Festplatte mit Elektronik
#1
Das US-Patent 836,339 „Magnetizable Body for the Magnetic Record of Speech, &c.”, angemeldet am 21. Juni 1901 [1], ist mit seinen genau 50 Textzeilen ebenso kompakt wie substantiell, beschreibt es doch nichts weniger als die heute allgegenwärtige Festplatte. Peder Oluf Pedersen, Partner und engster Mitarbeiter von Valdemar Poulsen, skizziert drei Informationsträger (neben der kreisrunden Platte noch Vollmetall- und Hohl-Zylinder), deren Unterlage aus unmagnetischem Material einen magnetisierbaren Belag trägt, gedacht als rotierende Alternative zum Stahl-Draht und –Band der Poulsen’schen Telegraphone. Der unscheinbare Zusatz „&c.“ deckt alle geeigneten anderen
Anwendungsbereiche neben der Sprachaufzeichnung ab.

Die zugehörigen Platten-Telegraphone wurden zwischen 1905 und 1909 in allerdings nur geringer Stückzahl, vermutlich weniger als 200 Exemplare, von der 1903 gegründeten Dansk Telegrafonfabrik Kopenhagen produziert. Die Platte maß 130 mm im Durchmesser, rotierte, federwerksgetrieben, mit konstanter Lineargeschwindigkeit von 0,5 m/s und erreichte eine Spielzeit von 45 Sekunden, nach anderer Quelle von 2 min.[2]

Wie alle Poulsen-Telegraphone hatte auch dieser Typ mit dem Handicap zu geringer Wiedergabe-Lautstärke zu kämpfen, nur je ein Telefonhörer an jedem Ohr ergab annehmbare Verständlichkeit. Damit konnte die magnetische Tonspeicherung nicht gegen die (mechanische) Schallplatte konkurrieren, obwohl sie als attraktiven Hauptvorteil die Eigenaufnahme bot. Was hier abhalf, war die Verstärkerschaltung mit Röhren, die Robert von Lieben in seinen Patenten von 1910/1911 angab, mit dem ausdrücklichem Hinweis (auch) „als Hilfsapparat für das Telegraphon“ (DE 249 142 vom 20. Dezember 1910). [3]

Kurioserweise erscheint an erster Stelle in der Literatur eine nachgerade ausgefallene Anwendung: 1920 berichtet A. Nasarischwily von Versuchen, „welche die Eisenbahnschienen als magnetischen Schriftboden zur telephonischen Übertragung von Signalen an den Lokomotivführer zu benutzen gestatten.“ Das heißt, auf einem Schienenstrang wurden Anweisungen magnetisch aufgesprochen, sodass „mit Hilfe des Lautsprechers unter Zwischenschaltung von Verstärkerröhren [das] Niedergeschriebene am Führerstand der die Strecke befahrenden Lokomotiven klar und deutlich wahrgenommen werden“ kann.[4]

Von A. (auch Al., vielleicht für Alexeij) Nasarischwily ist so gut wie nichts Persönliches bekannt; er war offenbar schon vor den 1920er Jahren als Radio-Ingenieur bei Siemens Berlin angestellt, was einige im Internet kursierende Publikationen zeigen.[5] Leider fand sich bisher kein auf den Erfindernamen Nasarischwily (auch Nasarishwily
o.ä.) angemeldetes Schutzrecht. [6]

Und doch hat Nasarischwily einen Platz in der Geschichte der Magnetspeichertechnik gefunden. 1921 erschien in der angesehenen Elektrotechnischen Zeitschrift (ETZ) ein kurzer Beitrag „Neue Versuche mit dem Telegra­phon“.[7] Hier kommt die renommierte Chemnitzer Firma Max Kohl A.G. [8] ins Bild, der – nach bisheriger Lesart – die Konstruktion eines „elektrischen Grammophons“ zugesprochen wird. Die Illustration des ETZ-Beitrags zeigt neben einem Telegraphon der Bauart Dansk Telegrafonfabrik einen rechteckiger Kasten, aus dessen Deckel eine Verstärkerröhre heraussteht, daneben einen Horn-Lautsprecher damaliger Bauart: „Das dargestellte elektrische Grammophon bei 20 W Sprachenergie spricht ebenso laut wie das mechanische und gibt die Rede klarer und schöner, als das mechanische wieder. Der lästige Beilaut und das unerträgliche Kritzeln, welches dem Edisonschen Grammophon eigen ist, fallen bei dem elektromagnetischen gänzlich fort.“ Das wäre also nichts Geringeres als die erste Festplatte mit elektronischer Verstärkung, und dementsprechend lauten auch die Gewichtungen in der Fachliteratur wie in vereinzelten Internet-Beiträgen.[9]

Die Suche nach einer besseren Abbildung dieser Anordnung endete mit einer Überraschung. Die Kataloge der Firma Max Kohl A.G. im Archivbestand des Sächsischen Industriemuseums Chemnitz führen nämlich das Telegraphon ausschließlich in der „Preisliste Nr. 50“ auf – und die stammt aus dem Jahr 1909.[10] Wenn Max Kohl A.G.
dieses Gerät selbst gebaut hätte, wäre ihm wohl ein längeres Katalog-Leben gegönnt gewesen; wahrscheinlich hat das Unternehmen nur den Vertrieb übernommen
und zeigte deswegen auch kein weiteres Interesse. Das Katalog-Bild von 1909 entspricht bekannten Bildern des Dansk Telegrafonfabrik-Geräts in jedem Detail, abgesehen davon, dass am Gehäuse der Schriftzug „Max Kohl A.G., Chemnitz“ angebracht ist. Eben dieses Katalogbild dürfte für die Bildmontage der ETZ verwendet worden sein.

Die erste Folgerung: der Max Kohl A.G. ist hier ohne eigenes Zutun, begünstigt durch eine „fehllesbare“ Formulierung in der ETZ 1921, eine technische Innovation zugesprochen worden, an der sie bestenfalls am Rande beteiligt war. Zweite Folgerung: Der für das „elektrische Grammophon“ verantwortliche Ingenieur ist der Siemens-Mitarbeiter Nasarischwily selber. Drittens: Die Überschrift des Beitrags – „Neue Versuche mit dem Telegraphon“ – ist wörtlich zu unternehmen; Nasarischwily hatte nur orientierende Untersuchungen im Sinn, ohne ein verkaufsfähiges Produkt in größerer Stückzahl zu planen.

Die Annahme „Versuchsbericht“ wird weiter dadurch plausibel, dass Nasarischwily in dem recht knappen Beitrag noch zwei weitere Themen anreißt, nämlich die magnetische Aufzeichnung auf Draht oder Band, wobei er festhielt, dass auch auf einem „stark vernickelten Kupferdraht … Gespräche aufgezeichnet“ werden können, wofür sich auch „Papier mit einem Nickelbelag“ eigne. Dritter Punkt ist die Kurzfassung der eingangs genannten Eisenbahnschienen-Versuche.

Fasst man die erfinderischen „Vorleistungen“ zusammen – hauptsächlich also das Pedersen-Patent von 1901 und Liebens Verstärkerröhren-Patente von 1910 –, zeigt sich, dass Nasarischwily kaum eine Chance hatte, auf seine durchaus sinnvolle Entwicklung ein Schutzrecht zu bekommen.

Bleibt die Frage, ob nach fast 100 Jahren diese Revision einer falschen Zuschreibung interessiert und wie Chancen stehen, diese Erkenntnis noch wirkungsvoll kommunizieren zu können.

   

linker Bildteil und Text: Max Kohl A.G., "Preisliste Nr. 50 : Band I; Einrichtungsgegenstände für physikalische und chemische Lehrräume; Experimentier-Schalttafeln; …", 1909. Der Telephonograph kostete also 220 Mark (Reichsmark), und das bei einem Durchschnittsentgelt von 1046 Mark in diesem Jahr (Umrechnungshinweise (Kaufkraft) laut Hamburger Staatsarchiv und Statistischem Bundesamt bezogen auf das Jahr 2000 [https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsmark...umrechnung]

rechter Bildteil: "Neue Versuche mit dem Telegraphon"; Elektrotechnische Zeitschrift 1921, Heft 38, S. 1068 / 22. September 1921.


   


Erläuterungstext im Bild:

TELEGRAPHONE DISC RECORDER/PLAYER / American Telegraphone Co. 1902

As far as we know, all Telegraphone disc recorder were manufactured in Denmark. The disc rotated at 0.5 meters/second at a constant linear velocitiy with a recording time of 45 seconds per side for a 5-inch disc. A permanent magnetic "tool" accompanied the ma­chine for the purpose of erasure.

Foto (1987) des Verf. aus dem damaligen Ampex Museum Redwood City, CA (USA). – Ein entsprechendes Bild siehe auch in: Walter Bruch, in: Von der Tonwalze zur
Bildplatte, Teil 2, Seite 15




Quellen und Anmerkungen

[1] Pedersen, Peder Oluf: Magnetizable Body for the Magnetic Record of Speech, &c., US No. 836,339, Apllication June 21, 1901; patended Nov. 20, 1906 – Alle genannten Patentschriften sind über Depatisnet [https://depatisnet.dpma.de/ > Einsteiger] abrufbar

[2] Mark H. Clark and Henry Nielsen, Inventing The Telegraphone / A New Danish Strategy, in: Magnetic Recording: The First Hundred Years, eds. Eric Daniel, C. Denis Mee,
Mark H. Clark (Piscataway, New-Jersey, IEEE Press, 1999)

[3] Lieben, Robert; Reisz, Eugen; Siegmund Strauss: Relais für undulierende Ströme, Zusatz zum Patent 236716 vom 4. September 1910, DE 249 142,
angemeldet 20. Dezember 1910

[4] Kr., Fernmeldetechnik / Der Telephonograph im Eisenbahnbetrieb, ETZ 1920, H. 26, S. 513

[5] Beispiele:
Nasarischwily, A., Galvanische Elemente mit Luftsauerstoffdepolarisation, Zeitschrift für Elektroschemie, Bd. 29, 1923, S. 320 f.

Al. Nasarischwily, Regeneration der Braunsteinelektroden der Leclanché-Elemente; Siemens-Schuckert Werke G. m. b. H., Siemensstadt bei Berlin

Nasarischwily, Al., Über eine neue Methode der Erzeugung elektromagnetischer ungedämpfter Schwingungen, welche in der Verwendung der elektrostatischen oder
magnetischen Eigenschaften der Kathodenstrahlen zu schnellsten Stromunterbrechungen besteht; Ann. d. Phys. 55. S. 610. 1918, S. 759 – 760

[6] Wer das Nasarischwily in einer umfangreichen Chronik zugeschriebene Patent US 1,653,476 von 1921 aufsucht, wird nicht nur von einer fachfremden
Patentschrift enttäuscht, auch der – nur auf Deutsch und vermutlich falsch wiedergegebene – Titel „Nicht magnetisierbarer, biegsamer Körper mit Metallpulverschicht (Magnetofon)“ erlaubt keine weitere Recherche. Eine Benachrichtigung des Webseiten-Autors wurde nicht beantwortet. – Siemens hat 1921 kein Patent im entsprechenden Sachgebiet in den USA angemeldet.
- 1921 - US-Pat. 1653476: Nicht magnetisierbarer, biegsamer Körper mit
Metallpulverschicht (Magnetofon): A. Nasarischwily (https://www.vde.com/wiki/chronik_2016/Wi...hwily.aspx).

[7] Nasarischwily, A.; Neue Versuche mit dem Telegraphon; Elektrotechnische Zeitschrift 1921. Heft 38, S. 1068 / 22. September 1921

[8] Zu Max Kohl AG siehe folgende Beiträge im Internet:
http://www.historische-messtechnik.de/he...x-kohl.php
http://www.compassmuseum.com/diverstext/profiles_d.htm
http://120years.net/helmholtz-sound-synt...many-1905/
http://www.sil.si.edu/digitalcollections...%28Firm%29

[9] Die bisherige Lesart des Nasarischwily-Beitrags „Neue Versuche mit dem Telegraphon“ ist u.a. zu finden in:
http://www.history-weimar.de/sender/page/mg.htm
http://www.radiomuseum.org/forum/die_ers...ulsen.html
Schüller, Eduard; Schüler, Ben-Michael, Die Geschichte des Magnettons, Telefunken, Presse und Information (tfr) Archivdienst; 1973-08
Clark, Mark Henry, The Magnetic Recording Industry, 1878- 1960: An International Study in Business and Tech-nological History, Ph.D. Dissertation, 1992-05
Engel, Friedrich; Kuper, Gerd; Bell, Frank; Zeitschichten / Magnetbandtechnik als Kulturträger, Polzer Media Group 2008 (Band 9 der Reihe "Weltwunder der Kinematografie"), als ebook: http://www.beam-ebooks.de/ebook/40085 bzw. http://www.beam-ebooks.de/autoreninfo.ph...usgeber%29) (2012)

[10] Korndörfer, Ute (Bibliothekarin des Sächsischen Industriemuseums Chemnitz), Auskunft und Scan der Katalogseiten vom 05.04.2016
ZEITSCHICHTEN, barrierefreier Zugriff im "GFGF-Buchladen", URL https://www.gfgf.org/de/b%C3%BCcher-und-schriften.html (ca. 240 MB)
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#2
Hallo Friedrich,

vielen Dank für deinen sehr informativen Betrag. Dass die Wurzeln der magnetischen Tonaufzeichnung so weit zurück liegen, war mir nicht bekannt. Glücklicherweise mussten die Menschen damals noch keine Daten sammeln, als Festplatte wäre die Kapazität nicht gross genug gewesen. Datentechnisch sind das eigentlich die ersten Wechselplatten gewesen.

MfG, bitbrain2101
Strom kann erst dann fliessen, wenn Spannung anliegt.
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#3
Der Nasarischwily/Max Kohl-Beitrag ist inzwischen auch im Download-Bereich abrufbar.

Zu den allerfrühesten Anfängen der magnetischen Tonaufzeichnung - man könnte sie fast "Gedankenspiele" nennen - bei Oberlin Smith steht ein umfangreicher Text (dt + eng) ebenfalls im Download-Bereich.

F.E.
ZEITSCHICHTEN, barrierefreier Zugriff im "GFGF-Buchladen", URL https://www.gfgf.org/de/b%C3%BCcher-und-schriften.html (ca. 240 MB)
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