Mitschnitt "Johannespassion"
#3
Hi Tonkopfträger,

Danke für deine Erinnerungen!

Die War Requiem Aufführung hätte ich auch gerne live erlebt (habe statt dessen die Decca-Produktion von 1963 unter Brittens Dirigat mit dem fabelhaften Produzenten John Culshaw). Dies wäre dann allerdings für mich allerdings ein bisschen früh gewesen (da war ich fünf Jahre akt), die Berliner Oper durfte ich später kennenlernen.

Hatte noch was vergessen ...

Da Mehrspuraufzeichnung in den 1970ern und 1980ern unerschwinglich war, habe ich frühzeitig gelernt, während des Mitschnitts zugleich auf Stereo abzumischen, d.h. unter den Bedingungen einer Livesendung. Da ist - wie beim Dirigieren - Vorausdenken das A und O.

Auch hier (wie bei vielen anderen Themen) war ich mir mit Eberhard Sengpiel einig, dass Aufstellorte und Mikrofontypen so gewählt werden müssen, dass die Signale später eine homogene Mischung ergeben können und nicht durch Hallzugabe oder ähnliches "hingebogen" werden müssen, um miteinander verträglich zu werden.

Ein falsch aufgestelltes Stützmikrofon beispielsweise ist im Grunde unbrauchbar, weil seine Zumischung das Klangbild so stark verändert, dass es unmöglich wird, es je nach Bedarf (Komposition, wechselnde Besetzung, dynamische Verläufe) unterschiedlich zuzumischen, ohne dass der Gesamtklang z.B. mehrräumig wirkt oder die Hörperspektive und Stereobasis sich wahrnehmbar ändern. Das ist vor allem bei der Johannespassion entscheidend, weil hier die Besetzungen in den dramatischen Partien oft im Sekundentakt wechseln, zum Beispiel in den rasch aufeinander folgenden Dialogszenen zwischen Evangelist, Pilatus, Christus, Petrus, verschiedenen Nebendarstellern (Zeugen, Hohepriester, Ancilla, Servus etc.) und den Turba-Chören.

Ein Kardinalfehler mancher Nachwuchstonmeister ist, dass sie nur noch Einzelsignale "abnehmen" in der Hoffnung, ihre zahlreichen Spuren während der Abmischung adäquat zusammenzubekommen ("we'll fix it in the mix"). Das Resultat ist oft, dass – überspitzt ausgedrückt – nichts mit nichts zusammenpassen will.

Es sind dieselben Nachwuchstalente, die die akustischen Folgen dieser Bequemlichkeit weder begreifen noch hören können, weil ihnen die dafür nötige Schulung fehlt. Auf diese war ich aber mit meinen damals stark eingeschränkten finanziellen und logistischen Mitteln (ich hatte bis 1987 keinen Führerschein!) angewiesen, was sich in späteren Jahren ausgezahlt hat.

Das bedeutet in der Praxis, dass ich bei Stützmikrofonen bei der Aufstellung quasi um jeden Zentimeter und bei der Ausrichtung um jeden Winkelgrad "kämpfe", was mir allerdings auch meistens eine Vielzahl an Mikrofonen erspart, die nur zusätzliche Arbeit für mich bedeuten, den Ausführenden im Weg stehen und nicht zuletzt die Optik stören.

Strafverschärfend kommt hinzu, dass ich bei vielen Mitschnitten die Mikrofonaufstellung nur in der Generalprobe entscheiden, aber nicht ausprobieren kann, zum Beispiel wenn zwischen GP und Aufführung ein Mikrofon-Setup abgebaut werden muss, weil im Aufnahmeraum zwischendurch eine andere Veranstaltung (in diesem Fall ein Gottesdienst) stattfindet, für den der Bühnenaufbau bis auf die Chorpodeste entfernt wird. Aus diesem Grund kann ich die Mikrofone erst unmittelbar vor dem Mitschnitt aufstellen, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die meisten Kirchen im vollbesetztem Zustand völlig anders klingen als unter Produktionsbedingungen, also leer (abgesehen von den anwesenden Musikern).

Gerade fällt mir ein, was mein früher Mentor Klaus Matthes zu diesem Thema in seinen Memoiren schrieb (was selbst dann gilt, wenn die Musiker nur zu einer Stellprobe anwesend sein können):

"Was auf Außenstehende rätselhaft oder gar unprofessionell bis unfreiwillig komisch wirken kann: Um die Klangbalance von Instrumenten und Stimmen sowohl mit ihren Direktanteilen als auch in der räumlichen Abbildung bereits während der Aufnahme so ausgewogen wie möglich hinzubekommen, bewege ich mich im Aufnahmeraum, nicht selten in leicht gebückter Haltung, horche, schiebe das Haupt- oder Stützmikrofon ein wenig vor oder zurück, nach links oder rechts. Diese scheinbar meditative, bisweilen auch tänzerisch anmutende Einlage hat nichts mit Selbstdarstellung des Tonmeisters zu tun; auf diese Weise versuche ich, für alle Mikrofone den bestmöglichen Platz zu finden.

Häufiges Hin- und Hereilen zwischen Aufnahmeraum und Tonregie gehört ebenfalls dazu, denn die hoffentlich gefundene Idealposition muss über die Abhöreinrichtung kontrolliert werden, weil sie dort gut klingen soll. Jedes einzelne Mikrofon muss nach den Vorgaben der Partitur und den Vorstellungen der Künstler seinen bestmöglichen Platz finden. Hierbei kommt es oft auf Zentimeter an, da diese Mikrofone die typischen Klangfarben, den räumlichen Eindruck und sogar den Geräuschanteil der einzelnen Schallquellen erfassen sollen, damit diese Informationen dem Gesamtklangbild möglichst unauffällig, aber unterschwellig wahrnehmbar zugemischt werden können.

Natürlich könnte man auch in begrenztem Rahmen durch Filterung Korrekturen vornehmen, doch ist es mir lieber, wenn die Klangbalance schon an den Mischpulteingängen stimmt. Der Einsatz von Entzerrern kommt mir immer vor wie die Bearbeitungen eines etwas unscharfen Fotos. Mit Weichzeichnern lässt sich Unschärfe vielleicht zum Stil erklären, doch scharf wird das Foto in letzter Konsequenz trotzdem nicht."


Grüße, Peter
Grüße
Peter


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Ich bin, wie ich bin.
Die einen kennen mich, die anderen können mich.
(Konrad Adenauer)
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[Kein Betreff] - von Tonkopfträger - 13.04.2019, 23:38
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