Vor rund 170 Jahren...
#8
Interessant wäre folgendes Experiment:
In einem guten Konzertsaal musiziert das Orchester, das Publikum hört entrückt zu, und ist überrascht zu hören, daß die Musik von einem eigens produzierten Band kommt, wiedergegeben über ein geschickt verstecktes Ensemble von Lautsprechern. Die Musiker haben nur gemimt. Auf diese Weise liesse sich in Zeiten angespannter Kassenlage der kulturelle Auftrag der Kommunen erfüllen, denn für einen Geiger, der nicht wirklich spielen muss, dürften die Gagen geringer sein als für einen Könner Wink Auch sind die Portokosten für ein Band geringer als die Reisekosten für ein ganzen Orchester Wink Ein mimendes Laienorchester wiederum findet man in jeder Kleinstadt, und diesen Leuten würde sich eine kleine, zusätzliche Einnahmequelle auftun. Wink Julia Roberts sehe ich auch nicht in echt, sondern nur auf Leinwand, und ich meckere deswegen nicht.

Ich bin der Meinung: Zumindest die Mikrophone samt nachfolgenden Stufen wären gut genug, das Publikum zu täuschen. Bei den Boxen habe ich zwar leise Zweifel, aber auch hier dürfte sich der größte Teil der Hörer täuschen lassen.

Vorraussetzung: Das alles findet in der gewohnten akustischen Umgebung statt, in der solche Aufnahmen und Höreindrücke entstehen.

Die Absicht, mit einer Tonaufnahme die Wirklichkeit originalgetreu "für den Hausgebrauch" zu reproduzieren und den Konzertsaal ins Wohnzimmer zu verlagern, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Das ist in etwa so aussichtsreich, wie der Versuch, sein Traumhaus zu photographieren um dann das Photo zu bewohnen. So wie das Photo nur einzelne Informationen darüber gibt, wie die Wirklichkeit aussieht, ist eine Tonaufnahme nichts mehr als ein Bild. Daß phantasiebegabte, musikalische Menschen oft verblüffend schlechte Audio-Anlagen haben, hängt damit zusammen, daß bei diesen Menschen die Musik im Kopf entsteht, und die Aufzeichnung ein - meistens entbehrlicher - Spickzettel bei diesem Prozess ist.

Eine Konserve ist eine Konserve und damit etwas ganz anderes als ein Original, sie dient auch einem anderen Zweck. Eine für Tonträger aufbereitete Aufnahme eines Konzertes kann gegenüber der Live-Darbietung unbestrittene Vorteile habe: Man kann Dinge, die im Konzertsaal untergehen, herauszoomen, beleuchten. Machen wir uns nichts vor: In einem Konzertsaal oder in einer Kirche akzeptieren wir den Stand der Akustik so, wie er eben bei Komposition des Werkes war und heute noch ist. Mit all seinen Mängeln! Es gibt Künstler, die haben daraus ihre Konsequenzen gezogen, den Konzertsaal nicht mehr betreten und sich darauf beschränkt, durch emsige Studio- und Cuttertätigkeit Tonträger zu produzieren, auf denen das Werk so zu hören ist, wie der Künstler sich das vorstellt. Ich meine hier z. B. den Pianisten Glenn Gould, auch wenn dessen Studiotätigkeit nicht nur von akustischen Wünschen motiviert war.

Ein Großteil der heutigen Musikproduktionen, besonders im U-Bereich, wird gar nicht für eine konzertante Aufführung gemacht, sondern für wiedergabe via Konserve. Neueste Entwicklung: Agbemischt für das Hören über möglichst billige MP3-Player über Mini-Ohrhörer in überfüllten Straßenbahnen.

Wenn ein Mikro die Aufgabe hat, den Schlag einer Bass-Drum trocken und impulsiv einzufangen und diese Aufgabe gut erledigt, so ist das Mikro für diesen Zweck gut.

Die Diskussion darüber, wieviel % eines Live-Erlebnisses ein Mikro verschluckt ist für mich persönlich belanglos, weil auch das beste noch zu bauende Mikro der Welt eines nicht kann: Die Emotionen eines Hörerlebnises zu vermitteln, die an einen festen Zeitpunkt gebunden sind.

Ein akustisch fragwürdiges Konzerterlebnis kann befriedigender sein als die technisch hochwertigere Reproduktion desselben im Wohnzimmer. Eine knisternde Vinylplatte, vorgespielt auf dem mediokren Plattendreher eines Freundes, bei dem ich zu Gast bin und der die Musik kommentiert, gefällt ganz anders wie eine unbeschädigte, knisterfreie CD über den Kopfhörer eines Plattenladens.

Würde ich Tonaufnahmen als Versuch sehen, die Wirklichkeit ersetzbar und wiederholbar zu machen, hätte ich keinen Spaß daran. Als Gedächtnisstütze und Anregung für das Vorstellungsvermögen betrachtet, kann ich sogar mit den allfälligen Mängeln sehr gut leben.

Was nicht heisst, daß ich diese nicht klein halten will.
Michael(F)
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[Kein Betreff] - von TBS-47-Audioclub - 10.07.2004, 11:21
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